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Unbeliebtheiten in der Pädagogik?

  • Werner Friedrichs: Passagen der Pädagogik. Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze. (Theorie Bilden 13) Bielefeld: transcript 2008. 306 S. Kartoniert. EUR (D) 32,80.
    ISBN: 978-3-89942-846-9.
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Systemtheorie und Pädagogik

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In der Veröffentlichung von Werner Friedrichs geht es um die Frage, welchen Wert die Systemtheorie für die Pädagogik haben kann, wenn sie sich mit Bezug auf ihre eigene Einheit thematisiert und zu denken versucht. Vor dem Hintergrund diverser Vorbehalte von Pädagogen gegenüber der Systemtheorie, die im Werk wiedergegeben sind, wiegt Werner Friedrichs in der Beantwortung seiner leitenden Frage Für und Wider ab – in einem Spektrum umfangreicher Referenzen.

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Obwohl Luhmann sich wissenschaftlich intensiv mit dem Erziehungssystem beschäftigt hat, wurde ihm vorgehalten, sich pädagogischer Probleme nicht anzunehmen. Werner Friedrichs hält dem entgegen, die Erziehungswissenschaft habe bislang nicht einschlägig geprüft, inwieweit sich aus den Entwicklungen Luhmannscher Systemtheorie theoretisch Ertragreiches für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen ergeben könnte. Eine mögliche Begründung dieses Versäumnisses sei zum Beispiel, dass Luhmann sein Theoriegebäude nicht auf ein im weitesten Sinne geistes- und sozialwissenschaftliches Fundament stellt – so der Autor.

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Empirie und Selbstreferenz

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Die Systemtheorie Bielefelder Provenienz als Epistemologie, die als Theorieformat oberhalb gewöhnlicher wissenschaftlicher Theorien der ›Normalebene‹ angelegt ist, benutzt den für differenztheoretische Argumentationen im Mittelpunkt stehenden theorietechnischen Terminus der Selbstreferenz, der die Systemtheorie aus Sicht ihrer Kritiker angeblich für empirische Forschung unbrauchbar mache und für formallogisch orientierte Wissenschaften unakzeptabel sei, weil Luhmann sich in Widersprüche, in Zirkularitäten verwickle. Doch: Das System liefert nicht mehr die logische Klammer, sondern bildet die operative Grundlage – so Werner Friedrichs. Gerade eine Theorie selbstreferenzieller Systeme kann beanspruchen, Supertheorie zu sein, denn das sei schließlich Voraussetzung dafür, wahre Aussagen machen zu können. Mit Anschluss an Luhmann: Eine Theorie kann nur universell gültig sein, wenn sie sich selbst berücksichtigt.

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Aus empirischer Betrachtung wäre infolgedessen keine Aussage über ein Außen möglich. Vor allem die Absicht, der sich gerade Pädagogen verpflichtet fühlen, andere verändern zu wollen, wird im Medium der Kausalität geformt. Luhmann hält dem entgegen, Kausalität und Wechselwirkungen erforderten eine Zurechnung von Wirkungen auf Ursachen. Aus einem Endloshorizont von in Betracht kommenden Ursachen und aus einem Endloshorizont von in Betracht kommenden Wirkungen wird selektiert. Diese Kausalattributionen in erzieherischen und erziehungswissenschaftlichen Belangen werden divers vollzogen. Die systemtheoretische Perspektive richtet sich auf allgemeine Pädagogiken, die in ontologischen Konnotationen Wirklichkeitspostulate lehren wie zum Beispiel: Der Mensch ist..., weil... Die Systemtheorie nach Luhmann beobachtet diesen Beobachter, um zu wissen, wie solche Kausalitäten konstruiert werden. Allerdings wird berücksichtigt, diese Beobachtung zweiter Ordnung kausal zu neutralisieren, da sonst der Zurechner des Zurechnens die eigentliche Ursache des Kausalgeschehens wäre. Luhmann hat nicht den Anspruch, Aussagen über ein Außen zu machen, denn das führt in die Theorie-Praxis-Debatte. Es geht einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme nicht darum, sich selbst zu verlassen und nachzusehen, was da draußen vor sich geht – oder gar einzugreifen –, sondern mittels Theorietechnik zu erforschen, welche Konturen Probleme annehmen, wenn man sie mit Hilfe der Systemtheorie formuliert.

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Auch Werner Friedrichs offeriert einen möglichen historischen ›Anfangspunkt‹ systemtheoretischen Denkens und bezieht sich auf Johann Heinrich Lambert: Wissensbestände sind nicht auf unmittelbar gegebene Lebenswelt beschränkt, vielmehr bedürfen sie analytischer Erweiterungen. Es geht nicht darum, die Ordnung der Natur oder der Welt zu lesen oder zu erkennen; Erkenntnis wird erst wissenschaftlich, gibt man ihr eine bestimmte Ordnung. Wissenschaftliche Erkenntnis wird aus Systemen gewonnen, nicht aus einer Taxonomie für ein Bündel von Sinnesdaten – so Lambert. Weder die Bezeichnung Lebenswelt und Erziehungswirklichkeit noch das Ziel ›des‹ Lebens ist der Mittelpunkt, noch die Rückbindung an die sinnliche Erfahrungswelt als letztgültige Instanz, sondern die innere Logik und Architektur von Systemen.

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Im Werk werden Kritikpunkte geisteswissenschaftlicher Pädagogik an die Systemtheorie exemplarisch benannt: Systemtheorien etablierten praxisferne Ordnungsfunktionen theoretischer Systeme. Ontologien werfen Systemtheorien Widersprüchlichkeit vor, da sie Ergebnis und Voraussetzung nicht trennten. Systemtheorien untergrüben das Dogma der klassischen Logik. Der Existenzbegriff verweise nicht auf eine ontische Qualität, sondern auf ein systemrelatives Konstrukt. Diese Vorwürfe benennen in der Tat Fundamentales der Systemtheorie. Der Systemtheorie wird sozusagen Innovation vorgeworfen. Der Autor begegnet in seinem Werk diesen Vorwürfen ebenso wie dem überbeanspruchten Vorwurf an Systemtheorien, sie propagierten einen Maschinismus: Aus Luhmannscher Sicht ist die Unterscheidung Maschine und Mensch fraglich. Luhmann geht von sozialen Systemen als Realitäten aus; das ist in seinem Grundlagenwerk verständlich beschrieben.

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Entwicklungen der Systemtheorie

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Friedrichs skizziert die Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie und markiert Luhmanns Referenzen auf Ernst Cassirer, Edmund Husserl und Talcott Parsons. Zunächst kann die Luhmannsche Systemtheorie vor dem Hintergrund der Gedanken Cassirers verstanden werden. Cassirer stellt den Funktionsbegriff als Zuordnungsgesetzt gegen den Substanzbegriff. Cassirer verabschiedet sich von Absolutheitsansprüchen rationaler Erkenntnisse und betrachtet Validitätsproblematiken nicht im Gerüst klassischer Logik. An die Stelle von Merkmalen, die eine Substanz oder ein Wesen bestimmen, werden Veränderungsverhältnisse von Elementen beobachtet. Begriffsbestimmungen erfolgen auch bei Luhmann nicht als ontologische metaphysische Wesensbestimmungen, sondern aufgrund der Ermittlung ihrer sozialen Funktion. Von Husserl entnimmt Luhmann die Idee einer Formalisierung und Operationalisierung des Sinnbegriffs – auf Grundlage einer funktionalen Betrachtung. Nicht durch eine hermeneutische Tiefendimension wird Sinn verständlich, sondern durch Rekombinationszüge und Veränderungsverhältnisse.

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Wenn wir die Welt sinnhaft erleben, [...] dann erleben wir sie als ›Text‹, dann hat Sinn etwas mit ›Interpretation‹ zu tun, damit, dass man sich selbst aus Anlass eines Textes einen Sinn macht. Der Text muss kein Buch sein. Man kann die Welt als Text denken und dann sagen, dass die Hermeneuten die Welt interpretieren. 1
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Der Hörer und Leser und nicht der Schreiber und Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Bemerkung, einer Utterance. Hermeneutiker haben vielleicht die Illusion, dass sie, wenn sie in Tiefendimensionen Sinn zu erkunden versuchen und mehr Einzelheiten ausfindig machen wollen, schließlich auf die eigentliche Bedeutung kommen. Das ist jedoch unmöglich, weil es Interpretation ist. Die Interpretation stammt schließlich vom Leser, vom Hermeneuten. Wenn er Sinn erkunden will und behauptet, er habe die wahre Bedeutung des Textes, den Sinn des Autors verstanden, dann ist er seiner eigenen Profession untreu geworden.

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Des Weiteren baut Luhmann den Strukturfunktionalismus Parsons’ um zu einer funktional-strukturellen Theorie, womit Strukturen problematisiert und nach dem Sinn von Strukturbildung, nach dem Sinn von Systembildung gefragt werden kann. Anders: Luhmann fragt, welche Ausgangsprobleme beziehungsweise Sinnstrukturen zum Entstehen aktueller Systeme beitragen.

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Luhmanns Systemtheorieentwicklung baut den Handlungsbegriff neu aufgrund der Problematik, Handlung als Figur der Komposition einzelner Elemente zu denken. Nicht mehr das ›Einfache‹, als das nicht mehr weiter auflösbare ontologische Letzte bestimmt den Handlungsbegriff, sondern nur als Verwendungseinheit im System wird das Element durch das System, in dem es als Element fungiert, selbst konstituiert. Elemente sind keine fokussierbaren Materialien; das System selbst definiert für sich die Elemente, die sich als operative Verweisstruktur bewährt haben. Das ist das Autopoiesis-Konzept, das Reproduktion beschreibt.

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Im Feld der Pädagogik ist der Autopoiesis-Begriff attraktiv. Die Systemtheorie bietet Anschlüsse an klassische Fragestellungen der Pädagogik, zum Beispiel die Frage nach der Autonomie pädagogischer Handlungszusammenhänge und pädagogischer Diskurse. Bildung ließe sich durch die Autopoiesis-These operativ thematisieren als Fähigkeit zur Selbstorganisation; jegliche Erziehungsversuche gehen auf den Educanden zurück durch das unhintergehbare Selbstmachen; Erziehung reproduziert Kontingenz und muss mit Kontingenz rechnen beziehungsweise die Nichtsteuerbarkeit von Wirkungen eingestehen.

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Differenztheorien

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Der Autor beobachtet eine aktuelle Debatte, in der die Differenztheorie von Jacques Derrida als denkbare Alternative oder Ergänzung der Differenztheorie Luhmanns gehandelt wird. Luhmann selbst hat Derrida rezipiert, zitiert ihn aber eher am Rande. Peter Fuchs reformuliert Derridas Überlegungen zur différance im Blick auf das zeitliche Prozessieren von Sinn. Mit Verweis auf George Spencer-Browns Laws of Form und Fritz Heiders Ding und Medium 2 gibt Luhmann Raum für die Weiterentwicklung des komplexen Differenzbegriffs: Die Differenz des Nichtunterschiedenen.

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Werner Friedrichs schildert den von Pädagogen an die Systemtheorie herangetragenen Vorwurf, sie stelle die Grundfeste der Wissenschaft und das Begriffsarchiv der Pädagogik in Frage, da sie keine Beziehung zur Realität herstelle und mit der Wirklichkeit breche, weil ihr ein operationaler Ansatz außerhalb einer Programmatik fehle. Dieser Vorwurf speist sich womöglich aus der Sichtweise, die Systemtheorie aus Bielefeld nehme der Pädagogik jegliche Gewissheitsreferenzen – so Friedrichs in Anlehnung an Dirk Baecker.

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Die Krise der Repräsentation, auch bekannt als Grundlagenkrise, führt zum Scheideweg von Wissensproduktionen. Bezeichnungen wie Trugbild, Abbild, Bild, Urbild sind Markierungen dieser Krise. Krisen sind bekanntlich entscheidungsgenerierende und differenzierende Prozesse, die Entwürfe notwendig machen, mit denen entschieden werden kann. Hier bringt der Autor Gilles Deleuze als Alternative ins Spiel. Friedrichs stellt Luhmann und Deleuze nebeneinander und begibt sich in die Problematik, Schriften eines Soziologen mit Schriften eines Philosophen zu vergleichen. Der Autor offeriert auf dieser Grundlage die Sichtweise: Luhmann habe eine konsequente Umsetzung einer Differenztheorie nicht erarbeitet. Friedrichs verweist hierbei auf Johann Dieckmann, wonach Luhmann über das Hegelsche Projekt (Identität von Differenz und Identität) nicht hinausgekommen sei. Es müsse überprüft werden, ob die Textpassagen Dieckmanns diese Auffassung belegen.

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Der alte Systembegriff als Einheit wird ersetzt durch System als Differenz von System und Umwelt. Die Differenz von System und Umwelt ist System. Theoretisch kann das aufgezeigt werden mit der operativen Geschlossenheit von Systemen. Es geht also nicht mehr um Repräsentation, sondern um Operation. Der Grundsatz der Logik – der unbestreitbar scheint: etwas ist oder etwas ist nicht – ist aristotelisch; Friedrichs, systemtheoretisch unterstützend: Auf Grundlage von Unentscheidbarkeiten kann jeweils entschieden werden.

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Luhmann greift neben Gregory Bateson und anderen auf Georg Spencer-Brown als Kronzeuge für seine differenzialistische Theorie zurück. Friedrichs ist die Unterscheidung der Einheit der Operation Luhmanns unklar, gar: Luhmann »bleibt [...] unklar« 3 bei der Interpretation Spencer-Browns. Hier kann Friedrichs systemtheoretisch ergänzt werden: Texte sind immer ihre Beobachtung.

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Friedrichs beschreibt abschließend die Operationsweise der Luhmannschen Systemtheorie und hebt einige Grundbegriffe hervor, mit denen es unter anderem möglich ist, das Erziehungssystem und die Funktion zentraler Medien zu analysieren, unter anderem mit dem Ergebnis Luhmanns: Das Konstrukt der guten Absichten ist für Pädagogen notwendig, um Zurechnungen von Handeln auf Personen zu ermöglichen.

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Friedrichs schlägt vor – auf Luhmanns Kontraktionsbegriff und nicht auf die ›Verlegenheitsformel‹ Bildung rekurrierend –, auf einer Grundlage von Werdsamkeit als Kontraktion von Wirksamkeit und Werden von einem Ereignis auszugehen: Die Pädagogizität des Pädagogischen in der Passage.

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Um nicht Gefahr zu laufen, sich an Blicke des an Kausalität interessierten Beobachters zu heften oder in Kausalattribution zu verfallen, mit dem Ziel, veränderungswürdige Fixpunkte zu schaffen – auf die Pädagogen wohl angewiesen scheinen – ließe sich hinzufügen: Ereignisse können datiert werden; sie verschwinden aber sofort wieder nach ihrem Entstehen. Nach Luhmann ist eine Differenz ablesbar an Ereignissen, die als Unterschied von Vergangenheit und Zukunft interpretiert werden. Ereignisse sind also durch Beobachtung generierte Konstrukte; Ereignisse sind nicht als solche existent, sondern nur als Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher beobachtbar.

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Werner Friedrichs versucht nicht das Verlangen zu befriedigen, dass Systemtheorie das sei, was womöglich Pädagogen sagen, dass sie sein müsse, nämlich einfach, verständlich und praxistauglich 4 . Es geht nicht um die Darstellung eines normativen Modells, sondern um eine Theorie hoher Reichweite, die nicht bloß die Leitfrage nach praktischen Verbesserungen möglichst einfach beantwortet – wie es für andere Theorien mittlerer Reichweite, Grundlagen- und Bedarfsforschung üblich ist. Wer auf hohem Theorieniveau begründen kann, dass manche ›Dinge‹ schlichtweg weder einfach noch einfach zu erklären ›sind‹, macht sich unbeliebt in der Pädagogik: Es geht der Luhmannschen Systemtheorie um eine theoretische Vorfrage aller Verbesserungen: wie sich Ordnung aufbauen lässt, die Unmögliches in Mögliches, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches transformiert. 5 Gerade deshalb kann das Werk von Werner Friedrichs für Pädagogen äußerst befruchtend sein.

 
 

Anmerkungen

Niklas Luhmann. Einführung in die Systemtheorie. Hg. v. Dirk Baecker. Darmstadt 2006; S. 235.   zurück
George Spencer-Brown: Laws of Form – Gesetze der Form [1969]. Leipzig 41997; Fritz Heider: Ding und Medium [1926]. Mit einem Vorwort von Dirk Baecker. Berlin 2005.   zurück
Werner Friedrichs: Passagen der Pädagogik. Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze. (Theorie Bilden, Bd. 13) Bielefeld 2008, S. 219.   zurück
Wer das verlangt – und das geschieht oft unhinterfragt –, katapultiert seine Beobachtung in die Form der Unterscheidung von Theorie und Praxis, blendet aber mit dieser Unterscheidung die Thematisierung dieser Unterscheidung aus, mit der er beobachtet.   zurück
Vgl. Niklas Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: N. L.: Aufsätze und Reden. Hg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart 2001, S. 77.   zurück