Eine Filmeinführung von Paulina Kutschka (vorgetragen am 19.01.2020 im Rahmen der Mittelmeer-Filmtage in München)
LA MER DU MILIEU (Mittelmeer)
Frankreich 2019 | Regie: Jean-Marc Chapoulie | Nathalie Quintane | 73 Min. | Dokumentarfilm
Bei dem Dokumentarfilm LA MER DU MILIEU des französischen Filmemachers Jean-Marc Chapoulie aus dem Jahr 2019 handelt es sich um einen Found Footage Film, sprich der Filmemacher verwendet ausschließlich Filmmaterial von online zugänglichen Webcams und Überwachungskameras, welche an Badestränden, Uferpromenaden, Häfen und Hotelanlagen der Mittelmeerküste installiert sind.
Die ersten Assoziationen, welche viele bei dem Gedanken an die Aufzeichnungen von Überwachungskameras haben, sind wahrscheinlich eintönige, ereignislose und sich schrecklich in die Länge ziehende Filmaufnahmen. Stunde um Stunde zeichnen die Apparate die gleiche Umgebung auf: je nach beobachteten Standort mal mehr und mal weniger oft durch das Erscheinen und anschließende Verschwinden von Personen unterbrochen, was zumindest ein bisschen Abwechslung in die ansonsten oft bewegungsarmen Bilder bringt. Der Informationsgehalt der Bilder scheint ohne die Personen gering.
Der Dialog aus dem Off zwischen dem Filmemacher und seinem Sohn, während sie sich gemeinsam die Aufnahmen einer Überwachungskamera anschauen, weist darauf hin, dass wir mit der Kamera als Instrument der Überwachung hoffen, etwas beobachten zu können, was uns normalerweise verborgen geblieben wäre – ein Verbrechen zum Beispiel oder eine andere Art Spektakel. Und vielleicht rührt aus dieser Hoffnung auch die Faszination der Aufnahme – es könnte ja etwas passieren! Für diesen Fall wurden die Kameras schließlich installiert, oder?
Der Regisseur Chapoulie fügt den Bildern der Kamera in seinem Film eine Informationsebene hinzu, die diese normalerweise nicht besitzen – Sound. Wir lernen viel aus den Geräuschen – kleine Bewegungen, welche unseren wachsamen Augen eventuell entgangen wären, werden durch de auditive Wahrnehmung erst hervorgehoben.
Und trotzdem – die Bilder bleiben auch auf der Kinoleinwand, wie gewohnt, nur das zweidimensionale Abbild eines dreidimensionalen Raumes. Den Zweck hinter der Überwachung leiten wir uns oft aus der Vorstellung des Wächters ab, welcher angestrengt im dunklen Kontrollraum sitzt. Dort hängt ein Bildschirm neben dem anderen und auf jedem flimmert das übertragene Bild einer stumm starrenden Kamera. Die Augen des Wächters warten wachsam auf eine Abweichung von der Norm, auf das Außergewöhnliche. Das Licht im Kontrollraum ist wie hier im Kinoraum gedimmt, damit nichts das Auge ablenken könnte und der Blick nicht von den Bildschirmen weicht. Hinter diesem Prozess steckt die Hoffnung der Prävention von Gefahr sowie die Möglichkeit der Intervention bei Gefahr. Eine solcher Einsatz von Überwachungskameras ist natürlich mit hohem Personal- und Kostenaufwand verbunden. Damit sich dieser Aufwand rentiert, müssen die Räume, die für den Einsatz und die Installation von Kameras ausgewählt werden, also auch die Räume sein, die als überwachungsrelevant gelten – hier fallen uns wohl als prominenteste Beispiele Bahnhofshallen oder -vorplätze ein, die einen Ruf als gefährlicher Ort haben. Der Installation von Überwachungskameras an diesen als unsicher eingestuften Orten folgt die Exklusion bestimmter, unerwünschter Personengruppen aus diesem – betont – öffentlichen Raum. Gemeint ist, dass Personen, die von der Norm abweichen, aus dem von der Kamera erschlossenen Raum verdrängt werden. So wird die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und damit auch die Kontrolle über den öffentlichen Raum sichergestellt. Das wiederum ist die Folge individueller Interessen, wie zum Beispiel denen von Einzelhändlern, Räume attraktiv und vermeintlich sicher für Kunden oder Touristen zu gestalten und die Aufenthaltsqualität zu steigern.
Was ich mit diesem unangenehmen Gedanken über Überwachungskameras ausdrücken möchte, ist, dass die Möglichkeit besteht durch das Instrument der öffentlich installierten Kamera Räume zu konstruieren. Wir erschaffen Grenzen, indem wir zwischen dem, was sich im Sichtfeld der Kamera befindet und dem was außerhalb dieses Sichtfelds liegt, unterscheiden. Diese Räume können in der Folge sogar klassifiziert werden, zum Beispiel nach ihrem Grad der Sicherheit. Das heißt, vergleichbar mit der Einteilung unserer Erdoberfläche in Regionen, Kommunen und Länder, funktioniert auch eine geografische Aufteilung in Räume durch permanente Bildaufzeichnung. Überwachung kann somit grundsätzlich als Versuch der Orientierung gesehen werden. Gleich dem Prozess der Zeichnung einer Landkarte wird eine Übersicht über Welt und Umwelt geschaffen. Die Installation von Kameras ist in diesem Sinne eine Kartierung unseres gesellschaftlichen Lebens und folgt dem Ziel, die Welt in bestimmte soziale, geografische und politische Räume zu unterteilen. Dies steht auch ganz in der Tradition der Kartographie, denn Karten galten schon immer als ein bedeutendes Medium im Hinblick auf das Archivieren und Vermitteln geographischen Wissens. In der Geschichte lassen sich etliche Beispiele finden, in denen gute Karten auf politischer Ebene ein Instrument der Macht darstellen. So sind sie etwa essentiell für die Seefahrt und spielten eine große Rolle in der Erschließung des Mediterran, sprich des Mittelmeerraumes, für Handelszwecke.
Wem also in meiner Argumentationskette aufgefallen ist, dass ich moderne Überwachungstechnologien, wie z. B. die biometrische Datenauswertung im Sinne der automatischen Gesichtserkennung etc., unerwähnt gelassen habe, die das Problem des Personalaufwands relativieren würde, kann erkennen, dass es letztlich keinen Unterschied für die Einteilung, Ordnung und Klassifizierung unserer Erde in Bildräume macht, wer beobachtet. Diesen räumlichen Informationsgehalt der Bilder finden wir auch im Material der im Netz freizugänglichen Webcams und Kameras aus Chapoulies Film wieder – denn wir alle prüfen doch gerne anhand der online Webcams das Wetter am Meer – oder in unsere Breitengraden wohl eher das Wetter am See – bevor wir uns entscheiden, zur Spritztour aufzubrechen und Live-Aufnahmen vom vier Sterne Hotel , bevor wir das All Inclusive Programm buchen, ist doch auch einfach extrem praktisch, oder? Wir wünschen uns Information und Wissen über unsere Erde und konstruieren dies durch die Bilder der Überwachung.
Der Film eröffnet gleichzeitig einen sprachlichen Zugang zu diesem Wissen. Chapoulie schafft ein poetisch anmutendes Mosaik aus Worten und Gesprächen, die nicht nur das Beobachtbare reflektieren, sondern auch über die Grenzen der Bilder hinweg das Leben um und auf dem Mittelmeer hinterfragen. Wir lauschen dem Dialog zwischen dem Filmemacher und seinem Sohn, zu denen sich noch die Stimme der französischen Schriftstellerin Nathalie Quintane gesellt. Gemeinsam eröffnen sie uns Betrachtungsmöglichkeiten auf einen Raum, dessen geographische Zusammengehörigkeit durch das Mittelmeer geschaffen wird und welcher folglich mit Vielfalt und Diversität angefüllt ist. Doch die Reise auf diesem Meer zeigt auch wie dieser Raum durch politische Grenzen, aber ebenso durch geographische Distanz gespalten wird. Ein Überbrücken dieser Grenzen wird durch das Meer in seiner Mitte noch erschwert.
Was Jean-Marc Chapoulie nun mit seinem Dokumentarfilm LA MER DU MILIEU gelingt, ist eine Kartierung der Küstenregionen des Mittelmeeres, eine Erschließung der Region über die Aufzeichnung der Kameras im öffentlichen Raum und damit eine Annäherung an einen Raum, welcher verbindet und gleichzeitig trennt und somit schon per se voller Widersprüche steckt. Ich lade Sie nun dazu ein, sich auf diesem Meer von Bildern und Worten treiben zu lassen und den mediterranen Raum in seinem eigenwilligen Wesen zu erkunden.