Eine Filmeinführung von Natascha Herr (vorgetragen am 24.01.2020 im Rahmen der Mittelmeer-Filmtage in München)

USTAV REPUBLIKE HRVATSKE (The Constitution)
Kroatien | Slowenien | GB | Tschechien 2016 | Regie: Rajko Grlić | 93 Min | Spielfilm

Mein Vortrag soll mit ein paar Worten zum kroatischen Regisseur Rajko Grlić beginnen: Sein Film „The Melody Haunts My Reverie“ aus den 1980er-Jahren, der damals aufgrund seiner ideologiekritischen Inhalte zu politischer Entrüstung und Verboten geführt hat, wurde mehrfach als bester jugoslawischer Film aller Zeiten bezeichnet. Er kann auf eine lange, internationale und beeindruckende Karriere als Filmschaffender und -lehrender zurückblicken. Seine Filme – also nicht nur „The Constitution“ –  wurden auf zahlreichen Filmfestivals gezeigt und mit ebenso vielen Preisen ausgezeichnet. Und trotzdem ist er in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben. Nahezu keiner seiner elf Spielfilme wurde jemals Deutsch synchronisiert oder untertitelt und selbst die kleine, furchtbar banale Tatsache, dass es keinen deutschen Wikipedia-Artikel zu Grlić gibt, spricht in diesem Zusammenhang Bände.

Aufgrund dieser Unbekanntheit des Regisseurs scheint es mir sinnvoll wie notwendig, ein wenig auf die Einflüsse, die sich in seinem Stil niederschlagen und seine inhaltlichen wie thematischen Tendenzen einzugehen. Grlić wurde 1947 in Zagreb geboren und ist in Kroatien als Teil des kommunistischen Jugoslawiens aufgewachsen. Später hat er an der renommierten Akademie der musischen Künste in Prag studiert, die vor allem in den 60ern viele bedeutsame Regisseure hervorgebracht hat und damals dafür bekannt war, ihren Studenten einen „unverstellten Blick auf gesellschaftliche Realitäten zu ermöglichen“.

Der rote Faden seiner frühen Erfahrungen, die Prägung seiner filmischen Ausbildung lässt sich in seinem ganzen Schaffen wiederfinden. Ein Merkmal des Prager Nachwirkens zeigt sich beispielsweise in Grlićs unverkennbarem Talent dafür, Komik in der Tragik von Politik und Alltag zu finden und seine Filme mit ironischen Elementen – also quasi einem Augenzwinkern an dieser oder jener Stelle – anzureichern, wie Sie auch im Anschluss in der Tragikomödie „The Constitution“ sehen werden.

Des Weiteren sind seine Filme – fast – alle höchst politisch. Sie sind aber nicht in dem Sinne politisch, dass sie einlinige, offenkundige Proklamationen wären: Grlić sagt selbst über das Medium Film, dass dieses nicht didaktisch, nicht belehrend sein oder politische Propaganda enthalten sollte, weil Filme Geschichten über Menschen und nicht Ideen seien. Menschen bewegen sich aber zwangsläufig in bestimmten Kontexten, in bestimmten Umständen und politischen Realitäten und diese müssten dementsprechend ebenso filmisch abgebildet werden.

Politische Realität ist hier ein entscheidendes Schlagwort. Grlićs Fokus liegt auf dem Individuum, auf den Erfahrungen ganz gewöhnlicher und außergewöhnlicher Charaktere. Gleichzeitig ist er aber ein akribischer, ein scharfsinniger und kritischer Beobachter von Welt, Gesellschaft und politischer Stimmung, was sich auch in seinen Arbeiten im Bereich des Dokumentarfilms deutlich offenbart. In anderen Worten: Grlić hat keine Angst davor, hinzusehen und das für den Zuschauer abzubilden, was er sieht.

Mit diesem Bild des Regisseurs im Hinterkopf und der Wechselwirkung von abgebildeter politischer Realität und Individuum im Blick möchte ich mich nun dem Film des heutigen Abends zuwenden. „The Constitution“ arbeitet mit einem sehr kleinen Ensemble an Charakteren, die sich gerade durch ihre Verschiedenheit auszeichnen und dennoch in der gleichen Stadt, Zagreb, und – noch schlimmer – im gleichen Wohnhaus leben. Vjeko wird gespielt von dem 2018 verstorbenen, bekannten serbischen Film- und Theaterschauspieler Nebojša Glogovac. Er ist ein Professor, durchaus wohlhabend, homosexuell, ein Transvestit und – kroatischer Nationalist. Oder, um seinen rechten Ansichten eher gerecht zu werden: ein Faschist. Des Weiteren lebt er mit seinem alten und pflegebedürftigen Vater zusammen: Ein ehemaliges Mitglied der Ustascha, der faschistischen Bewegung, die während des zweiten Weltkriegs in Kroatien an die Macht gekommen ist und mit vielen antisemitischen und antiserbischen Gewalttaten in Verbindung gebracht wird.

Geradezu antithetisch steht Vjeko sein serbischer Nachbar gegenüber, gespielt von dem Kroaten Dejan Aćimović – allein in der Besetzung zeigen sich also schon die zuvor erwähnten ironischen Untertöne des Regisseurs. Ante ist Serbe, Polizist, weniger gebildet, nicht wohlhabend und lebt mit seiner Ehefrau Maja, einer Krankenschwester, zusammen. Eines Nachts wird Vjeko Opfer eines homophoben Übergriffs auf offener Straße und dieser Vorfall ist der Auslöser, der die vier Charaktere zusammenführt: Maja kümmert sich im Krankenhaus um ihn und erklärt sich dazu bereit, ihn während des Genesungsprozesses häuslich zu unterstützen und die Pflege seines Vaters zu übernehmen. Im Gegenzug soll Vjeko ihrem Mann Ante dabei helfen, für die Prüfung zu lernen, der er sich für die weitere Ausübung seines Berufes unterziehen muss. Das Kernthema dieser Prüfung ist der Inhalt und der konkrete Wortlaut der kroatischen Verfassung.

Die Konstellation dieser vier Charaktere, ihre räumliche und persönliche Zusammenführung bietet eine grandiose Grundlage für eine filmische Umsetzung – denn die Konflikte, die für einen narrativen Handlungsbogen von Nöten sind, sind ihnen bereits von Anfang an eingeschrieben. Die Feder hat hierbei neben Rajko Grlić der kroatische Journalist, Autor und Drehbuchschreiber Ante Tomić geführt. Tomić ist selbst bereits zweimal auf offener Straße beleidigt und angegriffen worden, beide Taten motiviert durch die politisch eher linke Ausrichtung seiner Texte.

Menschen bewegen sich in politischen Kontexten: wie sieht also die politische Realität, wie sieht das Kroatien, das uns der Regisseur und der Drehbuchschreiber, geprägt von ihren eigenen Erfahrungen, Weltsichten und Alltagsbeobachtungen, vor Augen führen wollen, aus? Kroatien ist der jüngste Mitgliedsstaat der EU, in den 1990er-Jahren wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens und eingebettet in blutigen Auseinandersetzungen die Landesunabhängigkeit ausgerufen und anerkannt. Unabhängigkeit. Der erste Abschnitt der Verfassung beginnt mit der Versicherung der „tausendjährigen nationalen Eigenständigkeit und dem Fortbestehen des kroatischen Volkes durch die Gesamtheit historischer Ereignisse unter verschiedenen Staatsformen“.

Der Gedanke einer Volkseinheit und der „tausendjährige Freiheitstraum“ scheinen die Dreh- und Angelpunkte zu sein, an welchen sich die Selbstkonstruktion einer kroatischen Landesidentität vollziehen. Sie stellen eine Lesart der Traumata des 20. Jahrhunderts dar, der großen Kriege, der zahlreichen Territorialverschiebungen, des Wechselspiels gegensätzlicher politischer Systeme – und der Abhängigkeit.

Eine Lesart, die Gefahren birgt, da in ihr eine offensichtliche Grenze gezogen wird: wir, das geeinte Volk – und die Anderen. Obwohl die gleiche Verfassung Freiheit, Gleichheit, nationale Gleichberechtigung usw. als höchste Werte der Verfassungsordnung betonen, kann diese Grenzziehung schnell zu einer Rechtfertigung für Ausgrenzung und Anfeindung fehlinterpretiert werden.

Genau an dieser Stelle setzt Grlićs Film an: zum einen zeigt „The Constitution“, dass die Wunden der politischen Vergangenheit noch immer in die Gesellschaft und das Gedankengut der Gegenwart bluten und das Alltagsleben formen. Zum anderen wird anhand von Vjekos Charakter, anhand seines inneren Ringens und seiner Frustration deutlich, dass eine extrem rechte Auslegung des Volksgedankens nicht nur furchtbare Auswirkungen auf die Ausgeschlossenen, sondern auch auf die in sie Eingeschlossenen hat. Diese Interpretation konstruiert nämlich ein Volk, das in seinen Eigenschaften gleich sein muss – und zwar weit über Fragen der nationalen Angehörigkeit hinaus.

Was passiert also mit einem Menschen, der den homogenen Ansprüchen seiner eigenen Ideologie nicht gerecht werden kann?



Quellen und weiterführende Literatur

Die Verfassung der Republik Kroatien. Entn. <https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=0ca1c9c9-c10d-766a-cfa5-2fc30970f72a&groupId=273233>, letzter Zugriff: 20.01.2020.

Pavlaković, Vjeran / Pauković, Davor [Hgg.]: Framing the Nation and Collective Identities. Political Rituals and Cultural Memory of the Twentieth-Century Traumas in Croatia. London [u.a.]: Routledge 2019.

Steindorff, Ludwig: Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg: Friedrich Pustet 2001.

Vidan, Aida / Crnković, Gordana P.: „A Conversation with Rajko Grlić: Films Are Stories About People, Not About Ideas”. In: Dies. [Hgg.]: In Contrast: Croatian Film Today. Zagreb: Berghahn Book [u.a.] 2012, S. 100 – 115.

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