von Mark Alan Luxenhofer (vorgetragen am 23.01.2020 als Teil des Workshops „Ein flüssiger Kontinent? Méditeranée zwischen Fiktion und Realität. Panel 1: (Film-)Geschichten und (Film-)Landschaft des Mittelmeers“)
Roberto Rossellini ist ohne Zweifel einer der einflussreichsten Filmregisseure aller Zeiten. Zu Lebzeiten war der Italiener ein Weltstar, der regelmäßig zwischen Rom und Hollywood changierte. Er war mit der bekanntesten Schauspielerin ihrer Zeit verheiratet – Ingrid Bergman, mit der er zahlreiche Filme drehte und auch der spätere Meisterregisseur Federico Fellini lernte unter ihm. Die Filmwissenschaft hat deshalb bereits zahlreiche Forschung zu den Filmen des Vaters des Neorealismus produziert und die Frage ist sicher berechtigt, ob es denn überhaupt noch einen weiteren Vortrag zum Schaffen des Autorenfilmers brauche. Doch gerade heute unter dem Aspekt einer turbulenten, sich rasch veränderten und immer internationaleren Welt, erscheint es mir umso wichtiger, wieder einen Blick auf Roberto Rossellinis Schaffen zu werfen. Ich möchte Ihnen in den nächsten zwanzig Minuten zeigen, wieso Rossellinis Filme auch heute, 75 Jahre nach dem Erscheinen von Rom, offene Stadt, der für viele Forscher erstmals all die Motive vereinte, die später als italienischer Neorealismus in die Filmgeschichte eingingen, nichts an ihrer Aktualität verloren haben. Dafür will ich vor allem einen Teilaspekt in Rossellinis Werk herausnehmen und näher analysieren: Dem des semantischen Raumes des Mittelmeers als Raum der Begegnung verschiedenster Kulturen im Angesicht der größten Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts: dem zweiten Weltkrieg. Denn Rossellinis Filme verhandeln immer und immer wieder das Aufeinandertreffen unterschiedlichster Kulturen und Lebensrealitäten im Mittelmeerraum. Dafür möchte ich hauptsächlich auf drei Filme eingehen, die meiner Meinung nach exemplarisch für das gesamte Schaffen des Italieners angesehen werden können: Rossellinis 1946 erschienener Episodenfilm Paisá, sowie Rossellinis erstem Film mit seiner späteren Frau Ingrid Bergman Stromboli und dem 1954 erschienen Reise in Italien, ebenfalls mit Ingrid Bergman. In den nächsten Minuten möchte ich Ihnen vor allem darstellen, welche Rolle der filmische Raum in den interkulturellen Beziehungen in den Filmen von Roberto Rossellini spielt. Dafür muss ich zunächst aber einmal einen Bogen zur Literaturtheorie schlagen:
Juri Lotman definierte in seiner Theorie ein literarisches Ereignis einmal folgendermaßen (ich paraphrasiere): Damit ein Ereignis stattfinden kann, muss zunächst immer eine Grenzüberschreitung gegeben sein. Ein oder mehrere Charaktere müssen aus einem semantischen Raum in einen anderen übertreten. Lotmans Theorie lässt sich selbstverständlich gleichermaßen auch auf den Film anwenden.
Denn ein filmischer Raum ist immer semantisch, das heißt, mit für ihn spezifischen Merkmalen ausgestattet. Der semantische Raum Berlins in Rossellinis Deutschland im Jahre Null zum Beispiel ist mit Zerstörung, Verzweiflung, Armut und Ungewissheit semantisiert. Gleichermaßen ist ein Raum immer auch eine Projektion des Innenlebens der Figuren, die ihn navigieren müssen, wie August Schmarsow in „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“ beschreibt: „Das Raumgebilde ist eine Ausstrahlung gleichsam des gegenwärtigen Menschen, eine Projektion aus dem Inneren des Subjekts, gleichviel ob es leibhaftig darinnen ist oder sich geistig hineinversetzt“. Schmarsow bezieht sich hier vor allem auf die Architektur als Ausdruck menschlicher Kreativität, doch wie ich Ihnen im Folgenden darstellen möchte, so ist auch der filmische Raum ein architektonischer, das heißt ein vom Filmemacher penibel konstruierter Raum – ganz gleich ob es sich um ein Studioset handelt oder, wie im Fall von Rossellini und seinen Zeitgenossen, vor allem um Originalschauplätze.
Als Rom, offene Stadt kurz nach Kriegsende 1945 erschien, schlug der Film hohe Wellen in der zeitgenössischen Filmkritik. Rossellinis Film war anders als alles, was die Filmkritik der 1940er Jahre gewohnt war. Anders als die Filme Hollywoods, die mit aufwändig konstruierten Sets und einer sorgfältig geplanten Lichtsetzung aufwarteten, hatte Rom, offene Stadt fast schon dokumentarischen Charakter. Gedreht wurde nicht im Studio, sondern direkt auf den Straßen Roms in den letzten Wochen des zweiten Weltkrieges. Die Produktionszustände waren so verheerend, dass Rossellini das Zelluloid auf dem Schwarzmarkt kaufen musste und nicht in der Lage war, das Material zu sichten, bevor die Dreharbeiten abgeschlossen waren. Die Wahl von real-existenten Sets war jedoch keine gänzlich freie. Die Cinecittà-Studios waren durch den Krieg fast gänzlich zerstört, sodass es nicht möglich war, den gesamten Film in einem Studio-Setting zu drehen. Rossellini und sein Team gingen also hinaus auf die Straßen und drehten zum großen Teil mit nicht-professionellen, örtlichen Schauspielern. Obwohl eines der wichtigsten Sets des Films, das Hauptquartier der Nazis in Rom, im Studio gebaut werden konnte, entschied man sich, für viele Szenen authentische Orte aufzusuchen. So wurde für die Kirche von Don Pietro extra eine Kirche ausgewählt, die derselben Gemeinde angehörte wie die eines tatsächlich ermordeten Priesters des italienischen Widerstandes. Die Filmkritik feierte die Raumgestaltung Rossellinis und seiner Mitstreiter (allen voran Vittorio de Sica und Luchino Visconti) als einen zuvor nie dagewesenen Grad an filmischen Realismus und der Einsatz von echten Sets wurde schnell zu einem der Hauptmerkmale des Neorealismus erhoben.
Wie künstlerisch Rossellini diese in Szene zu setzen weiß, zeigt sich am Ende des Films, wie Maria Spelleri in ihrer Analyse des Films treffend beobachtet:
„For example, in the last scene of Rome Open City, the priest Don Pietro is executed in a field. The camera pans left to the watching children, who turn to walk away, a view of the city behind them. The micro-level human tragedy in that anonymous space is contrasted with a sense of grandeur and timelessness of the beautiful „eternal“ city, bringing to mind the many micro-tragedies that it holds, and has held within its boundaries, and which, perhaps most importantly, were endured and overcome.”
Das Motiv des filmischen Raumes als Projektion der vielen menschlichen Einzelschicksale, die ihn navigieren, ist am evidentesten in Rossellinis nächstem Film, dem Episodenfilm Paisá.
Der Film ist benannt nach dem Begriff, mit welchem die amerikanischen Soldaten während des zweiten Weltkrieges die Einwohner Italiens bezeichneten und verweist somit schon im Titel darauf, dass die Begegnung unterschiedlicher Kulturen im besetzten Italien eines der zentralen Motive des Films bildet. Dabei erweitert Rossellini den filmischen Raum. Spielte Rom, offene Stadt noch an Originalschauplätzen in Rom, ist Paisá in sechs Episoden unterteilt, die von Sizilien, über Neapel und Rom bis in die ländlichen Gebiete der Romagna und Po-Ebene reichen. Gedreht wurde dabei ausschließlich an Originalschauplätzen. Aufgrund der Kürze der Zeit will ich an dieser Stelle nur auf eine Episode eingehen, die meiner Meinung nach exemplarisch zeigt, inwiefern der filmische Raum in Rossellinis Filmen als Ort der Begegnung und Differenz angesehen werden kann.
In der zweiten Episode, die ihn Neapel spielt, trifft der afroamerikanische US-Militärpolizist Joe auf einen kleinen italienischen Jungen namens Pasquale. Joe ist dabei stark angetrunken und lässt sich von Pasquale, der nur darauf aus ist, diesen zu bestehlen, in ein Puppentheater führen. Das Puppentheater im Film steht dem semantischen Raum des zerstörten Neapels konträr gegenüber. Es ist semantisiert mit spaßiger Leichtigkeit und ist fast eine Oase inmitten der Kriegswirren der Stadt. Joe wirkt indes jedoch inmitten der ausgelassenen Szenerie wie ein Fremdkörper. Die Grenzüberschreitung der Schwelle zum Theater, bedingt nach Lotman bereits ein Ereignis, da Joe als Afroamerikaner und Nicht-Italiener nicht in die allgemeine Semantik des Raums passt. Stark betrunken und offensichtlich zum ersten Mal in seinem Leben in einem Puppentheater, stürmt er zum Missfallen aller auf die Bühne.
Pasquale gelingt es, Joe hinauszuführen, bevor die Situation völlig eskaliert und die beiden machen Rast inmitten einer zerbombten Gebäuderuine, wo Joe beginnt, Pasquale in einer träumerischen Wunschvorstellung von New York City zu erzählen. Da Joe den Namen des Jungen nicht kennt, redet er ihn immer wieder mit „Paisá“ an. Zwischen den beiden besteht eine kulturelle Barriere, die in dieser Szene vor allem sprachlich dargestellt wird, da Pasquale kein Wort dessen versteht, was Joe ihm erzählt und Joe in dem Jungen nur einen von vielen „Paisás“ sieht. Dennoch scheinen sich die beiden, die beide aus ärmlichen Verhältnissen stammen, anzunähern. Sie scherzen und haben sichtlich Spaß. Die Szene endet damit, dass Joe einschläft und Pasquale ihn davor warnt, jemand würde ihm die Stiefel stehlen, wenn er dies tut. Später erfährt der Zuschauer, dass ihm Pasquale selbst die Stiefel gestohlen hat.
Tatsächlich trifft Joe später erneut auf den Jungen. Zunächst erkennt er ihn nicht, doch schließlich stellt er fest, dass er der Junge war, der ihm die Stiefel gestohlen hat. Erbost fordert Joe Pasquale auf, ihn zu seinen Eltern zu bringen und ihm die Stiefel zurückzugeben. Pasquale führt Joe daraufhin zu einem Lager am Fuß eines Berges, in welchem Obdachlose in einer Gemeinschaft hausen. Joe ist sichtlich erschüttert über den Zustand, in welchem die Menschen dort leben müssen und sein Zorn weicht allmählich Mitleid. Als er Pasquale erneut fragt, wo seine Eltern sind, antwortet dieser, sie seien bei einem Luftangriff der Alliierten ums Leben gekommen. Denn trotz der sprachlichen Barriere versteht Joe die Worte „bomba“ und „bum bum“ sehr wohl. Entsetzt und beschämt über die Konsequenzen des Handelns seiner Landsleute, überlässt er den Jungen die Stiefel und fährt wortlos von dannen. Es ist einer der menschlichsten und zugleich traurigsten Momente im Film. Als Joe den Raum sieht, in welchem Joe und die anderen „Paisás“ leben, werden die Grenzen zwischen Besatzern und Besetzten mit einem Schlag aufgehoben. Genau wie die Wände der zerstörten Häuserruinen, in welchen sich Joe und Pasquale zum ersten Mal trafen, so reißt Rossellini auf diese Weise die kulturelle Barriere zwischen dem Amerikaner und dem italienischen Jungen ein. Der Raum selbst verweist also direkt auf die Beziehung der beiden anfangs so konträren und doch so ähnlichen Figuren.
Stromboli erzählt die Geschichte eines Flüchtlingsmädchens, das sich von ihrer Heimat vertrieben, in einem Lager in Italien einfindet. Dort gefangen und ohne die Möglichkeit auszureisen, verbringt sie ihre Tage voller unerträglicher Monotonie und Unsicherheit. Das ändert sich, als sie den Fischer Antonio kennenlernt, in welchen sie sich zunächst verliebt. Durch die Heirat mit dem Italiener gelingt ihr endlich die Ausreise aus dem Lager. Doch ihr neues Zuhause auf einer kargen Mittelmeerinsel entpuppt sich schnell als neues Gefängnis. Die Inselbewohner können den Neuankömmling nicht akzeptieren und Karin stellt schnell fest, dass die kulturellen Differenzen tiefe Gräben zwischen ihr und ihrem Ehemann aufwerfen.
Ihre Versuche das eigene Heim aufzuhübschen beispielsweise, stoßen bei ihrem Mann und den Inselbewohnern auf Ablehnung, die in Karins Verhalten einen direkten Angriff auf die eigene Lebensweise sehen. Hinzu kommt die sprachliche Barriere, da Karin kein Italienisch spricht.
Als Karin auf einer ihrer vielen einsamen Wanderungen über die Insel auf einen kleinen Jungen trifft, spiegelt sich in ihren Worten die ganze Verzweiflung über die Unmöglichkeit ihres Lebens in einem ihr völlig fremden semantischen Raum. „Talk to me, talk“, wiederholt sie immer wieder. Doch der Junge antwortet stets nur mit dem einzigen Wort, das er kennt: „No.“ Anders als in Paisà findet in Stromboli keinerlei Annäherung statt. Genau wie in dem kargen, toten Raum der Insel, kann auch zwischenmenschlich nichts wachsen. Karins Bemühungen bleiben vergeblich, da sie auf genauso unfruchtbaren Boden fallen wie der Steinboden der Insel selbst. Über allem schwebt dabei bedrohlich der Vulkan Stromboli, der dem Film seinen Namen gibt. Es erscheint nur eine Frage der Zeit, bis er, genau wie interkulturellen Spannungen auf der Insel, explodiert – was später auch passiert. Noch mehr als in seinen vorherigen Filmen, spiegelt sich in der Kulisse von Stromboli die gesamte Gefühlswelt seiner Hauptdarstellerin wider. Die Art und Weise wie Rossellini den Raum der Mittelmeerinsel als Projektion seiner Figuren nutzt, sollte später großen Einfluss auf die Filme vieler seiner Kollegen nehmen – allen voran Michelangelo Antonioni und dessen 1960 erschienenen Film L’Avventura. Um den zentralen Konflikt seines Films zu integrieren, wählt Antonioni ebenfalls die steinernen Inseln des Mittelmeerraums als Schauplatz. Die karge Landschaft der Mittelmeerinsel stellt eine Projektion des Innenlebens seines Protagonisten dar, der hin und hergerissen ist zwischen der Liebe zu einer anderen Frau und dem Pflichtgefühl gegenüber seiner Freundin, die zu Beginn des Films bei eben jenem Ausflug auf die Insel spurlos verschwindet.
Auch in Reise in Italien verhandelt Rossellini wiederum das Motiv der kulturellen Begegnung. Die Kulturen sind jedoch nicht nur wie in Rom, offene Stadt oder Paisà aufgrund ihrer jeweiligen Lebensrealitäten miteinander verbunden, sondern sogar über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg.
In Reise in Italien reist das unglücklich verheiratete britische Ehepaar Kathrine und Alex Joyce, gespielt von abermals Ingrid Bergman und George Sanders, nach Italien, um die von Alex Onkel geerbte Luxusvilla zu besichtigen, mit dem Ziel diese zu verkaufen. Von einem schönen Urlaub kann jedoch alles andere als die Rede sein. Es ist Winter in Italien und die Kälte des Raumes reflektiert die Kälte, die Kathrine und Alex‘ Beziehung mittlerweile eingenommen hat, zu unterschiedlich sind doch die Lebensvorstellungen der Beiden. Alex hat sich immer Kinder gewünscht, Kahtrine lehnte dies jedoch ab. Kathrine zeigt sich beeindruckt von der italienischen Kunst und Dichtung, Alex wiederum blickt nur spöttisch auf sie herab. Im fremden semantischen Raum Italiens schließlich entladen sich die Spannungen, die sich, so impliziert der Film zumindest, bereits über Jahrzehnte zwischen den beiden aufgebaut haben.
Dabei befinden sich beide Eheleute beinahe den gesamten Film über in jenem Spannungsverhältnis aus Anziehung und Ablehnung gegenüber dem fremden semantischen Raum Italiens. Alex kann zwar der italienischen Kunst oder dem Landleben nichts abgewinnen, wohl aber dem italienischen Lebensgefühl und ganz besonders den italienischen Frauen. Mehrfach ist er im Verlaufe des Films kurz davor, Kathrine zu betrügen, die sich wiederum ihrerseits dem ein oder anderen Flirt nicht unbedingt abgeneigt zeigt. Immer wieder werden im Verlauf des Films zudem Kulturstätten aufgesucht.
Nach ihrem ersten großen Streit beispielsweise, fährt Kathrine in die Stadt und besucht ein Museum, das sie zwar zunächst fasziniert, mit längerer Laufzeit jedoch immer mehr zu beunruhigen scheint. Der Blick der vielen römischen und griechischen Statuen scheint sie förmlich zu durchbohren. Im Raum des Museums trifft die antike Kultur des Mittelmeers zusammen mit der modernen Lebensrealität von Kathrine, die Einheit von Zeit und Raum, die Aristoteles einst als höchste Regel des antiken Dramas ausrief, scheint hier mit einem Male nicht mehr zu gelten. Nicht nur Kathrine trifft in jener Szene auf die Schatten einer Vergangenheit, die sie zwar fasziniert, die sie jedoch nicht gänzlich einzuordnen vermag; auch die moderne Kunstform des Films trifft auf die der bildenden Kunst.
In einer der Schlüsselszenen des Films schließlich besucht das Ehepaar eine Ausgrabungsstätte in Pompeji, in welcher der Gipsausguss eines toten Paares freigelegt wird. Für Kathrine ist die Szene zu viel und sie möchte den Ort sofort verlassen. In jener Szene wird den beiden nicht nur die eigene Sterblichkeit vor Augen geführt, sie ist gleichsam eine Metapher auf die Vergänglichkeit ihrer eigenen Ehe. In dieser simplen und doch so kraftvollen Szene verbindet Rossellini erneut Vergangenheit und Zukunft. Kathrine fühlt sich seltsam verbunden mit dem jahrtausende altem Paar, da ihr in dieser Szene klar wird, dass die kulturellen Barrieren, die sie bisher für gegeben erachtet hat, in jenem Moment nicht existieren. Fühlte Kathrine sich im Raum des Museum noch wie ein Fremdkörper, so gelingt es Rossellini in jener Szene genau das Gegenteil dessen darzustellen. Kathrine wird bewusst, dass die Themen um Liebe, vor allem unerfüllter, schmerzhafter Liebe, die Menschheit selbst überdauern. Anders als in der Mueseumsszene entspringt Kathrines Unwohlsein hier nicht dem Gefühl des Nicht-Dazugehörens. Es ist ein Moment tief empfunden Mitleids, einer geteilten Menschlichkeit, ein Moment kultureller Begegnung auf Augenhöhe, trotz zeitlicher Diskrepanz. Kathrine produziert ihre gesamte Gefühlswelt auf das tote Paar vor ihren Augen. Sie verschmilzt, wenngleich nur für einen kurzen Moment, komplett mit ihnen und geht auf im filmischen Raum. Gleichzeitig kann jene Szene als eine Reflektion über das Wesen der Kunst selbst betrachtet werden. Rossellini zeigt seinem Zuschauer, dass selbst die moderne Kunstform des Films (eine Kunstform, die in den 50iger Jahren noch sehr jung war), in der Tradition der Antike steht und sich – bei aller technischer Innovation – die Motive seit Jahrtausenden wiederholen.
Es ist bezeichnend wo das Ehepaar schließlich wieder zusammenfindet: Als sie sich inmitten der San Gennaro Prozession verirren und real räumlich voneinander getrennt sind, erkennen beide, was es wirklich bedeuten würde, von nun an getrennte Wege gehen zu müssen. Die Hektik des Raumes kontrastiert hier das erneute emotionale Zueinanderfinden der Ehepartner. Es ist die hektischte und gleichzeitig harmonischte Szene des Films. Sowohl Kathrin als auch Alex haben die eigene Realität akzeptiert und versuchen nicht mehr, dagegen anzukämpfen. Sie gehen unter im Raum, in der Masse der Menschen und verfolgen, eng an sich haltend, das ihnen scheinbar so fremde Schauspiel.
Mit Reise in Italien konnte Rossellini seinerzeit nicht an seine Welterfolge wie Stromboli oder Europa 51 anknüpfen. Die zeitgenössische Filmkritik zeigte sich von jener Langsamkeit der Handlung und vor allem von Rossellinis Raumdarstellung mit seinen vielen Ortswechseln irritiert und manche Kritiker gingen gar so weit, dem Regisseur einen Berufswechsel nahezulegen. Heute gilt Reise in Italien jedoch nicht nur als eines der größten Werke des italienischen Meisterregisseurs, sondern gleichsam als eines der ganz großen Werke des Films. Viele Kritiker sehen in Reise in Italien den ersten Film der filmischen Moderne. Darüber lässt sich sicherlich streiten. Unbestritten ist jedoch, dass Reise in Italien das gesamte Können Rossellinis offenbart. In keinem anderen Film des Regisseurs wird die Einheit zwischen Figur und Raum, die das gesamte Schaffen Rossellinis durchzieht, so deutlich wie hier. Reise in Italien ist nicht nur der erste wirkliche „Roadmovie“ der Filmgeschichte, es ist zugleich eine Lehrstunde filmischen Erzählens durch den Raum selbst. Es ist eben jene inszenatorische Brillianz, die den Filmemacher Jacques Rivette später zu der Aussage hinreißen ließ, mit dem Erscheinen von Reise in Italien seien alle anderen Filme schlagartig um zehn Jahre gealtert.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen in den letzten knapp zwanzig Minuten näherbringen, warum Roberto Rossellinis Filme es wert sind, noch heute gesehen und genauer analysiert zu werden. Der Vater des Neorealismus und Wegbegründer der cineastischen Moderne verhandelt in seinen Filmen immer wieder das Aufeinandertreffen scheinbar konträrer Ideologien und Weltanschauungen. Manchmal poetisch tragisch, wie in der zweiten Episode in Paisà, manchmal mit erdrückender Melancholie wie in Stromboli, oder sensibel und intim wie in Reise in Italien.
Dabei macht Rossellini den Raum selbst, durch welchen sich Figuren und Kamera bewegen, zum Protagonisten seiner Filme. Wenig Regisseure vor oder nach Rossellini verstanden es derart gut, die filmische Bühne so zu nutzen, wie es der Italiener tat. Genau wie die versteinerten Liebenden in Reise in Italien, so werden deshalb auch Rossellinis Filme die Zeiten überdauern.