Zwischen Be- und Entgrenzung. Das Paradox Mittelmeer(raum)

von Patryk Maciejewski (vorgetragen am 25.01.2020 als Teil des Workshops „Ein flüssiger Kontinent? Méditeranée zwischen Fiktion und Realität. Panel 2: Das Mediterraneum als Grenz- und Kulturraum“)

Das Mittelmeer galt schon zu antiken Zeiten als Ort des Transfers von Ideen, Gütern und Kulturen. Es war nicht nur Schauplatz der ersten, mediterranen Globalisierung, sondern schon immer auch Ort massiver Migrations- und Kolonisationsbewegungen. Ob Phönizier, Etrusker oder Römer, ob Ragusa oder Venedig: Das Mittelmeer floss, wörtlich und metaphorisch. Dieser Auffassung vom Méditerranée als Transferraum steht unsere heute Vorstellung vom Grenzgebiet Mittelmeer, als das Trennende, das Fremd- und Andersartigkeit Erschaffende, entgegen. Beispiele hierfür finden sich nicht nur im aktuellen Flüchtlingsdiskurs. An kaum einem anderen Ort spürt man die Auswirkungen des Nord-Süd-Konfliktes mehr als am Mittelmeer. Hier stellt sich die Frage: Wie kann ein Raum als trennende Grenzlinie und gleichzeitig als Ort des Austausches verstanden werden?

Bevor wir uns diesem Spannungsverhältnis zwischen Be- und Entgrenzung widmen, müssen wir zunächst die beiden Raumkonzeptionen gesondert untersuchen und ihre historische Herkunft in Betrachtung nehmen. Zu diesen Zwecken werden wir auf das Medium Karte zurückgreifen, das, insbesondere in Zeiten der vormodernen Kartographie, Informationen über das Weltbild und die Denktradition einer Epoche liefern kann. Anhand von ausgewählten Karten werden wir die historische Veränderung und Entwicklung der Mittelmeerimaginationen nachverfolgen und versuchen, das dichte semantische Netz aus arbiträren Grenzsetzungen, ethnischer Vielfalt und kulturellem Austausch besser nachzuvollziehen.

Gehen wir zunächst einen Schritt zurück und fangen bei der Bezeichnung dieses Gewässers an. Diese suggeriert bereits eine gewisse räumliche Ordnung: Mediterraneum, Mittelhavet, Morze Śródziemne. Die Vielfalt ist groß, doch zumindest scheinen sich die europäischen Sprachen in einer Sache einig zu sein: In den 24 Amtssprachen der EU besteht die Bezeichnung für dieses Gewässer stehts aus zwei Teilen: ‚Mitte‘ oder ‚zwischen‘ und ‚Land‘ bzw. ‚Erde‘. Das Meer in der Mitte bzw. das Zwischenmeer. Doch welche Mitte ist hier gemeint? Zwischen welchen Polen befindet sich dieses Gewässer? Zwischen Europa und Afrika? Um das herauszufinden, müssen wir zu den Anfängen der westlichen Kultur blicken. Die gemeinsamen Wurzeln dieses Hydronyms gehen nämlich auf die griechische Bezeichnung ***mesogaios zurück, das, wie erwähnt, „in der Mitte des Landes bzw. der Landmasse“ oder ‚mittelländisch‘ bzw. ‚binnenländisch‘ im Gegensatz zu ‚maritim‘ bedeutet. Nun ergeben sich hier zwei Interpretationsmöglichkeiten: Einerseits das binnenländische Meer, im Gegensatz zu einem „außerländischen Meer“, einem außerhalb der Landmasse liegendem Meer; andererseits das Meer in der Mitte des (Fest-)Landes bzw. der Erde. Beide Deutungen führen uns zur ersten, für die westliche Kultur relevanten Raumkonzeption des Mediterraneums, und zwar dem Weltbild der griechischen Polis.

Zunächst bestimmen wir, welches außerhalb der Landmassen liegende Meer hier gemeint ist. Eine Erklärung hierfür finden wir im 18. Gesang der Illias. Nach dem Tod des Patroklos und dem darauffolgenden Beschluss Achills, Hektor zu töten, bittet er seine Mutter Thetis, neue Waffen von Hephaistos zu beschaffen. Dieser beginnt unverzüglich ein neues Schild herzustellen, das wie folgt beschrieben wird:

„Erst nun formt' er den Schild, den ungeheuren und starken,
Ganz ausschmückend mit Kunst. Ihn umzog er mit schimmerndem Rande,
Dreifach und blank, und fügte das silberne schöne Gehenk an.
Aus fünf Schichten gedrängt war der Schild selbst; oben darauf nun
Bildet' er mancherlei Kunst mit erfindungsreichem Verstande.
Drauf nun schuf er die Erd', und das wogende Meer, und den Himmel,
Auch den vollen Mond, und die rastlos laufende Sonne; […]“
(Hom. Il. 18, 478–484)

Einige Verse weiter heißt es:

„Auch die Gewalt des Stromes Okeanos bildet' er ringsum
Strömend am äußersten Rand des schönvollendeten Schildes.“
(Ebd. 607–608)

Diese Passage, lässt sich einerseits als Ekphrase, eine bildhafte Beschreibung eines Gegenstandes lesen (vgl. Abb. 1), andererseits fungiert es als Analogie für den gesamten Kosmos bzw. „zeigt […] im Kleinen, was die Welt […] im Großen ist.“ (Schadewaldt 1938: S. 368) Schon in den ersten Worten umspannt die Beschreibung die ganze bekannte Welt: Erde, Himmel und Meer. Betrachten wir die Karte des vorsokratischen Gelehrten und ersten historisch fassbaren griechischen Kartographen Anaximander aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., wird klar, dass diese Darstellung durchaus wörtlich zu verstehen ist, denn die bewohnte Welt, beziehungsweise die Oikumene, ähnelte in der Vorstellung der Griechen einer kugelförmigen Insel (vgl. Abb. 2). Diese wurde, wie Homer erklärt, von einem riesigen Wasserstrom, dem Oceanos, umflossen. In der Mitte der Erdscheibe hingegen befand sich, nomen est omen: das Mittelmeer.

Abbildung 1: Der Schild des Achills (moderne Nachbildung)
Abbildung 2: Die Weltkarte des Anaximander

Nun haben wir die etymologische Herkunft des Begriffes und die diesem zugrundeliegende Weltvorstellung nachvollzogen, doch welche Rolle spielte dieses Gewässer für die Griechen und wo verorteten sie sich in dieser Welt? Einem Mythos zufolge entsandte Zeus zwei Adler, einem vom östlichen und einem vom westlichen Weltenrand, um den Mittelpunkt der Erde zu bestimmen. Die beiden Adler trafen sich in Delphi, wo bis heute der Omphalos-Stein wortwörtlich den Nabel der Welt markiert (Roscher 1974: S. 54–55).

Die Tatsache, dass der Mittelpunkt der Welt nicht nur im griechischen Kulturraum, sondern bei einem der wichtigsten Heiligtümer der Hellenen, nämlich dem Tempel des Apollon, lag, gibt Aufschluss über die räumliche Ordnung der Ökumene. Um die Schildanalogie weiterzuverwenden, erkennt man hier deutlich eine Unterscheidung zwischen dem Zentrum, dargestellt durch den Mittelpunkt des Schilds, und der Peripherie, die schließlich mit dem Rand des Schilds, dem Okeanosstrom, endet. Diese Unterscheidung war für die Griechen essenziell, ja bedeutungs- und identitätsstiftend. Je weiter man sich vom Zentrum wegbewegte, desto unzivilisierter und barbarischer wurde die Umgebung. An den Rändern der Welt lebten die Hundsköpfigen, Zyklopen, Mundlosen und andere Wundervölker, dort nahm das Fremde und Unsittliche die Überhand.

Auch die zentrale Lage des Mittelmeers verweist auf die enorme Bedeutung dieses Gewässers für die griechische Hochkultur. Es war für sie keine Grenze, sondern im Gegenteil, ein grenzenloser Raum mit potenziell unendlicher Mobilität. Für die griechischen Stadtstaaten, die häufig in kargen und gebirgigen Orten lagen, war der Seeweg die sicherste und effizienteste Route. Dies führte nicht nur zu extensivem Seehandel, sowohl unter den Stadtstaaten als auch mit den Persern und den Phöniziern, sondern auch zur griechischen Kolonialisierung des Mittelmeerraums. Die im ständigen Austausch stehenden Stadtstaaten der griechischen Halbinsel vereinten ihre Kräfte im attischen Seebund, was schließlich den Nährboden für die Entstehung der Demokratie legte.

Die Hypermobilität, die das Mittelmeer bot, besaß jedoch durchaus Nachteile. So erscheint es zunächst widersprüchlich, dass der Raum, in dem ein friedlicher, kooperativer Stadtstaatenbund, samt Mitspracherecht der Bürger entstand, gleichzeitig ein Ort der exzessiven Gewalt und militärischer Machtkämpfe sein kann. Es ist jedoch nicht wunderlich, wenn man bedenkt, dass die Anfänge der europäischen Literatur in der Beschreibung einer militärischen Auseinandersetzung liegen, genauer in der bereits erwähnten Ilias. Historisch gesehen war das Mediterraneum schon immer ein Ort des Konfliktes. Selbst zu Anfangszeiten der Demokratie fand sich der attische Seebund in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Perserreich sowie später mit dem Peloponnesischem Seebund. Vielleicht sind genau dieses Konfliktpotenzial und der damit verbundene Wunsch, Einheit und Klarheit zu schaffen, zusammen mit intensivem Handel und Kulturaustausch die treibenden Faktoren für die Entstehung der Demokratie gewesen.

Nun haben wir die historischen und kulturellen Hintergründe der Denktradition des „Entgrenzten Mittelmeers“ nachvollzogen. Natürlich lassen sich auch andere Beispiele anführen, die griechische Kultur dient uns hier emblematisch als Beispiel einer kulturellen Imagination, die die Grenzenlosigkeit des Mittelmeers betonte. Dieses Gedankengut wurde schließlich an ein Volk weitergegeben, dass ebenso wie die Griechen und Phönizier von der Hypermobilität des Mittelmeers profitierte, nämlich die Etrusker und schließlich die Römer. Das Römische Reich ist gewissermaßen eine Weiterführung und Perfektionierung des mediterranen Potenzials. Zu seiner größten Ausbreitung lag das Mittelmeer hier wortwörtlich in der Mitte des Reiches weshalb es auch mare nostrum genannt wurde. Seine wirtschaftliche Macht hatte das Römische Reich zum großen Teil dem mediterranen Handel und der mediterranen Mobilität zu verdanken. Einen besonderen Stellenwert im römischen Reich hatte die Provinz Aegyptus, nicht zuletzt wegen der hohen Fruchtbarkeit der Erde. Gleichzeitig ermöglichte der Zugang zum Roten Meer eine direkte Verbindung zum Gewürzhandel, der hauptsächlich am Indischen Ozean stattfand (vgl. McLaughlin 2014: S. 1–22). Im Westen erschlossen die römischen Expansionsbestrebungen, vor allem in Gallien, zusätzlich weite Teile Europas und veränderten ein weiteres Mal das Verständnis der Ökumene.

Der Bruch mit dieser Raumkonzeption und somit die Entstehung des neuen Paradigmas lässt sich an der Epochengrenze zwischen Antike und Mittelalter verorten. Betrachten wir eine Karte des spanischen Gelehrten Isidor von Sevilla, so erkennen wir deutliche Brüche und Veränderungen aber auch einige Gemeinsamkeiten mit älteren geographischen Konzepten (vgl. Abb. 3). So wird das Motiv der Radkarte, sprich der runden Darstellung der Erdscheibe, wie sie bei Anaximander zu finden ist, übernommen, diese stellt hier jedoch die obere Hälfte bzw. Hemisphäre des Erdballs dar. Der deutlichste Unterschied ist in der Darstellung des Mittelmeers zu sehen: War in griechischer und römischer Vorstellung das Mediterraneum noch ein zentraler Teil der Identität und bindender Raum für griechische Stadtstaaten und römische Provinzen, ist das Mittelmeer hier als klare Grenze zwischen Europa, Asien und Afrika erkennbar. Sie fungiert hier unter dem Namen mare magnum als Trennlinie zwischen Europa und Afrika. Die Grenze zwischen Afrika und Asien bildete dem isidorischen Verständnis nach der Nil, die zwischen Europa und Asien der Tanais, der heute unter dem Namen Don bekannt ist. Wegen ihrer charakteristischen Form werden diese Karten häufig TO-Karten genannt: das ‚T‘ repräsentiert hierbei die drei Kontinentalgrenzen und das ‚O‘ die runde Form der Karte.

Abbildung 3: Radkarte aus Isidor von Sevillas Etymologiae, Erstdruck Günther Zainer, 1472

Suchen wir nach dem Mittelpunkt dieser Erdscheibe, entdecken wir eine weitere grundlegende Veränderung: Dieser ist nicht mehr im zentralmediterranen Raum zu finden, sondern im Osten, genauer in Jerusalem. Die Christianisierung war nämlich ein treibender Faktor dieser neuen Raumvorstellung, wie man an den Beschriftungen „Sem“, „Jafet“ und „Cham“ sehen kann. Diese gehen auf die alttestamentliche Völkertafel zurück, einer Zusammenstellung der Nachkommen Noahs. Im 9. Kapitel des ersten Buches Mose heißt es: „Die Söhne Noahs, die aus dem Kasten (damit ist die Arche gemeint) gingen, sind diese: Sem, Ham und Japheth. Ham aber ist der Vater Kanaans. Das sind die drei Söhne Noahs, von denen ist alles Land besetzt.“ (1. Mose 3, 18) Die drei Söhne Noahs verbreiteten sich auf die drei Erdteile und wurden zu den Stammvätern der dortigen Völker. Dieses Kartenmotiv, samt Einteilung der Welt in drei Teile, prägte die europäische Kartographie und das Selbstbild der Europäer bis in die Neuzeit. Die 1495, fast 1000 Jahre nach Isidor herausgegebene Schendelsche Weltchronik übernimmt genau diese Einteilung, wie wir an den drei Söhnen Noahs an den Rändern der Karte sehen. Der Einfluss dieses Weltkonzeption geht noch weiter: Das Motiv der OT-Karte ist auch auf dem Reichsapfel der römisch-deutschen Kaiser zu finden. Dort symbolisierte es den Universalherrschaftsanspruch sowie die übernationale Reichsidee der christlichen Herrscher.

Im weiteren Verlauf der Geschichte wurde dieses Weltbild in Europa immer weiter verfestigt. Zu nennen wäre einerseits der Aufstieg und die Expansion des Islams, welche eine Trennung zwischen christlichem Abendland und islamischem Morgenland bewirkte. Auch das Fränkische Reich und die Krönung Karls des Großen zum römischen Kaiser zementierten das Bild eines unter dem Christentum vereinten Europas. Die isidorische Wende kennzeichnet den Beginn einer Um- und Neuordnung der Welt nach christlicher Vorstellung. Gleichzeitig tritt das Mittelmeer zugunsten des Festlandes immer weiter in den Hintergrund und wird zur Projektionsfläche für hegemoniale Ansprüche (vgl. Braudel 1998: S. 386–388). Je fester und greifbarer das Konzept Europas wurde, desto weniger Raum blieb für das Mittelmeer und die zwei anderen Erdteile. In der Neuzeit schließlich, verdrängte Europa das Mittelmeer als Zentrum der Welt, wie man an den im 16. Jhd. populären Kartenmotiv der Europa regina erkennen kann (vgl. Abb. 4). Hier wird Europa als junge Frau dargestellt, mit dem Kopf auf der iberischen Halbinsel, dem Oberkörper repräsentiert durch Frankreich und den beiden Armen in Italien und in Skandinavien. Das Mittelmeer sowie Asien und Afrika spielen hier nur noch eine marginale Rolle.

Abbildung 4: Europa regina in Sebastian Münsters Cosmographia, 1570

Der Paradigmenwechsel bedeutete aber keinesfalls, dass das Wissen um die Mobilität und Transferleistung des Mittelmeers in Vergessenheit geriet, im Gegenteil sogar. Besonders der wirtschaftliche Aspekt gewann in den folgenden Jahrhunderten immer mehr an Bedeutung. Diese „Mediterranisierung der Welt“ ging Hand in Hand mit der europäischen Expansion. Schrittweise dehnte sich der intensive mediterrane Handel auf andere Teile Europas und schließlich der ganzen Welt aus. Die Niederlande beispielsweise etablierten sich zunächst als Bindeglied zwischen dem hanseatischen Bund und den Handelsrepubliken des Mittelmeers, was sich als höhst profitabel herausstellte. Mit dem Fall Konstantinopels, der den Zugang zur Seidenstraße und zum Gewürzhandel stark einschränkte, wanden sich die maritimen Mächte gen Westen, was schließlich zur Entdeckung der Neuen Welt und in Konsequenz auch zur Etablierung des atlantischen Dreieckshandels führte. Das Mittelmeer kann also als Geburtsort des internationalen Systems gesehen werden, samt freiem Welthandel und Völkerrecht (vgl. Leggewie 2012: S. 4). Das Konzept des modernen Staats entwickelte sich durch die am Mittelmeer beginnende und auf den Weltmeeren vollzogene Globalisierung sowie den Kolonialismus. Neuzeitliche Urbanisierungsmuster lassen sich auf die stark urban geprägten mediterranen Küstenstädte zurückführen (vgl. ebd. S. 6).

Nun haben wir die beiden in Opposition stehenden Denktraditionen umrissen: auf der einen Seite steht das Antike Weltbild des Mittelmeers als „Meer in der Mitte“ auf der andern die mittelalterliche Deutung als „Zwischenmeer“. Es ist jedoch wichtig an dieser Stelle klarzustellen, dass keine dieser Auffassungen je überall und von allen anerkannt war, da wir hier hauptsächlich von europäischen Denktraditionen sprechen. Dies sind lediglich die beiden äußersten Pole einer Skala, und historisch oszillierten die Konzeptionen zwischen ihnen.

Eine besonders absurde Vorstellung des Mittelmeers liegt dem Projekt Atlantropa zugrunde. Als geistiger Vater dieses Megaprojekts gilt der Architekt und Kulturphilosoph Herman Sörgel. Sein 1928 konzipierter Plan sah vor, an spezifischen Orten, z.B. der Straße von Gibraltar, riesige Staudämme zu errichten, die ultimativ das Mittelmeer teilweise trockenlegen sollten (Sörgel 1929: S. 8). Das so gewonnene Land sollte als Siedlungsraum für die Europäer dienen und Arbeitsplätze für diese schaffen, die Staudämme würden die neuen Siedlungen mit Strom versorgen. Nicht zuletzt war dies auch ein Versuch, nach den katastrophalen Auswirkungen des I. Weltkriegs, weitere kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden und die europäischen Kräfte in einem Großprojekt zu vereinen (vgl. dazu: Sörgel 1932). Dieses Vorhaben war aus vielen Gründen nicht tragbar. Durch die plattentektonischen Bewegungen am Mittelmeer konnte die Stabilität der Staudämme nicht garantiert werden, ein Bruch oder ein Tsunami hätten verheerende Auswirkungen für die dort lebenden Menschen. Zusätzlich wäre der Lebensraum von tausenden Lebewesen vernichtet worden, ganz zu schweigen von den Klimafolgen, die das Verdampfen einer solchen Menge Wasser mit sich ziehen würde. Auch wäre der Salzgehalt des neugewonnenen Landes so enorm, dass er praktisch nicht für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden könnte.

Wir müssen schlussendlich feststellen, dass dieser „flüssige Kontinent“ schlicht und ergreifend nicht eingrenzbar ist: weder ethnologisch, national oder historisch. Das ambige Wechselverhältnis des Meeres als scheinbar klar abgrenzbares Gebiet und gleichzeitig Ort der höchsten Mobilität, erschwert diese Aufgabe zusätzlich. Doch selbst diese Unbestimmtheit und Unbegrenztheit hat den Menschen nicht davon abgehalten, konzeptuelle Grenzziehungen vorzunehmen, ja vielleicht hat sie es sogar begünstigt. Dem Mittelmeer haften Assoziationen mit der Ökumene, Weltmacht, Globalisierung und schließlich der europäischen Dominanz an. Natürlich darf auch die Rolle der dortigen Bevölkerung nicht außer Acht gelassen werden. Die schweizerisch-slowenische Historikerin Desanka Schwara bezeichnet das Mittelmeer als „Verschachtelung von Diasporagemeinschaften“, die eher religiösen und großfamiliären Bindungen folgten, als nationalen Loyalitäten. Die Vielzahl an kulturellen, wirtschaftlichen, nationalen, kontinentalen und imperialen Grenzziehungen, die sich bedingen, aufeinander aufbauen oder in Opposition zueinander stehen, wird in einem Raum vereint, was diesen wiederum zu einem sehr hohen Grad semantisiert. Um die Worte des kroatischen Literaturwissenschaftlers Predrag Matvejević zu benutzen: „Weder in Raum noch in Zeit sind seine Grenzen verzeichnet. Wir wissen nicht, wie und auf welcher Grundlage wir sie bestimmen sollten: Sie sind nicht ethnisch und nicht historisch, nicht staatlich und auch nicht national. Der ‚mediterrane Kreidekreis‘ wird unablässig gezeichnet und wieder gelöscht, Wind und Wellen, Abenteuer und Inspiration erweitern oder verengen ihn nach ihrem Maß.“ (Matvejević 1993: S. 17)


Quellen
Braudel, Fernand (1990): Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Frankfurt a. M.
Homer: Ilias, Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. 22. Auflage 2004. München.
Leggewie, Claus (2012): Hafenstädte am Mittelmeer: Zwischen Dekadenz, Nostalgie und Erneuerung. Online abrufbar unter: https://www.eurozine.com/hafenstadte-am-mittelmeer/
Matvejević, Predrag (1993): Der Mediterran. Raum und Zeit. Zürich.
McLaughlin, Raoul (2014): The Roman Empire and the Indian Ocean. The Ancient World Economy and the Kingdoms of Africa, Arabia and India. Barnsley.
Roscher, Wilhelm Heinrich (1974): Omphalos. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1913–1918. Hildesheim [u.a.].
Schadewaldt, Wolfgang (1959): Von Homers Welt und Werk: Aufsätze und Auslegungen zur homerischen Frage. Stuttgart.
Sörgel, Hermann (1929): Mittelmeer-Senkung. Sahara-Bewässerung (Panropa-Projekt). Leipzig.
Sörgel, Hermann (1932): Atlantropa. Zürich/München.

Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: The shield of Achilles according to the description of Homer – a hand-colored etching by Quatremere de Quincy, (Antoine-Chrysostome 1755-1849) ca. 1814 Published in The Jupiter Olympian, Paris, Didot; gemeinfrei, entnommen https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_shield_of_Achilles_according_to_the_description_of_Homere_by_Quatremere_de_Quincy.jpg.
Abbildung 2: Die Weltkarte des Anaximander, entnommen http://www.myoldmaps.com/maps-from-antiquity-6200-bc/108-hecataeus/.
Abbildung 3: T and O style mappa mundi (map of the known world) from the first printed version of Isidorus‘ Etymologiae (Kraus 13). The book was written in 623 and first printed in 1472 at Augsburg by one Günther Zainer (Guntherus Ziner), Isidor’s sketch thus becoming the oldest printed map of the occident; gemeinfrei, entnommen https://commons.wikimedia.org/wiki/File:T_and_O_map_Guntherus_Ziner_1472.jpg.
Abbildung 4: Map of Europe as a queen, printed by Sebastian Munster in Basel in 1570; gemeinfrei, entnommen https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Europe_As_A_Queen_Sebastian_Munster_1570.jpg.

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