Perspektiven. Zur Realität und Imagination von Grenzen

von Lea Kubisch (vorgetragen am 25.01.2020 als Teil des Workshops „Ein flüssiger Kontinent? Méditeranée zwischen Fiktion und Realität. Panel 2: Das Mediterraneum als Grenz- und Kulturraum“)

Grenzen gehören zur menschlichen Wirklichkeit. Ganz gleich, ob sie territorial-real existieren und mit Zäunen, Mauern und Stacheldraht verteidigt werden oder kulturell-imaginär sind und durch das Denken und Handeln der Menschen bestehen. Aber warum sind Grenzen in unserem Alltag jederzeit so präsent? Die menschliche Fixierung auf Grenzen an sich lässt sich mit der grundlegenden Art unseres Seins bzw. Bewusstseins erklären. Wir definieren uns, indem wir uns von anderen abgrenzen. Anton Pelinka – ein österreichischer Politikwissenschaftler, der sich viel mit der Grenzthematik beschäftigt hat – bringt das ganz gut auf den Punkt. Er schreibt: „Um zu wissen, wer wir sind, müssen wir wissen, wer wir nicht sind.“ [1] Grenzen sind für uns Menschen also in erster Linie notwendig, um uns selbst als Individuen zu begreifen und von „den Anderen“ abzugrenzen. Gleichzeitig existieren sowohl simplere, als auch wesentlich komplexere Arten und Vorstellungen von Grenzen.

Unter dem Titel Perspektiven – Zur Realität und Imagination von Grenzen möchte ich nun über verschiedene Arten und Formen von Grenzen, die Abgrenzungsmechanismen zwischen Personengruppen sowie über die damit verknüpfte Funktionalisierung von Feindbildern sprechen. Besonders im Mittelmeerraum, der das thematische Grundgerüst der Mittelmeer-Filmtage bildet, sind Grenzen ein zentrales und aktuelles Thema. Hier sind vor allem die Flüchtlingsthematik, kulturelle Differenzen oder Umweltfragen zu bedenken. Im Mittelmeergebiet sind auch Feindbilder keine Seltenheit – wie letztlich in der gesamten Welt. In der Verknüpfung des Mittelmeerraums mit Deutschland ist das Feindbild des Flüchtlings momentan äußerst aktuell. In der philosophisch-kulturellen Reflexion von Grenzen und der psychologisch-soziologischen Darlegung von Feindbildern soll deshalb die politisch-mediale Instrumentalisierung des Flüchtlingsfeindbildes herangezogen werden. Die verschiedenen Zugänge, von Philosophie über Psychologie, Soziologie und Politik, hin zum Medialen, sind notwendig, um die vorgestellte Thematik umfassend beleuchten zu können.

Um Fremdheit verstehen zu können, muss erst einmal das Konzept der Grenze näher betrachtet werden. Wie ich zu Beginn bereits feststellte, existieren unterschiedliche Arten von Grenzen: Klassische Grenzvorstellungen unterscheiden zumeist zwischen territorialen und nicht-territorialen Grenzen. Wir alle kennen Grenzen v.a. in physischer Form, als Grenzzaun, Mauer oder Ländergrenze. Also als Linie oder Gebiet, das von anderen definiert und verteidigt wird. Eine territoriale Grenze. Bedenkt man aber andere Arten von Grenzen – wie zum Beispiel Abgrenzung durch Religion, Sprache, Kultur oder Klassenzugehörigkeit – fällt das Übermaß an nicht-territorialen Grenzen erst ins Auge. Die Differenz zwischen territorialen und nicht-territorialen Grenzen ist also vielleicht schon einen Schritt zu weit gedacht. Denn die wichtigste Unterscheidung ist meiner Meinung nach zwischen natürlichen und künstlichen Grenzen zu treffen. Natürliche Grenzen beziehen sich z.B. auf geographische oder physikalische Gegebenheiten. Ich möchte mich im Folgenden aber besonders mit den künstlichen Grenzen beschäftigen. Der Begriff der Künstlichkeit wird von Michael Hardt kritisiert, erinnert er ihn doch zu sehr an Kunst. Hardt ist Professor für Visuelle Kommunikation und beschäftigt sich auf gesellschaftlicher und ästhetischer Ebene viel mit Grenzen und Grenzüberschreitungen. Statt „künstlich“ schlägt er die Bezeichnung „vom Menschen erdachte Grenzen“ oder auch imaginäre Grenzen vor. [2] Darunter fallen ideologische, politische, sprachliche, persönliche Grenzen, usw. Also die Art von Grenzen, die durch das Denken und Handeln der Menschen bestehen.

Einige werden jetzt denken: „Es gibt also einerseits reale und andererseits phantasierte Grenzen…“ Doch so simpel ist es eben nicht. Denn imaginäre Grenzen können – trotz ihrer physischen Absenz – durchaus real sein, je nachdem, ob sie endogen oder exogen sind. Also aus dem Inneren eines Menschen kommen oder von außen, von anderen Individuen, auferlegt werden. Finden Begrenzungen nur im Geist eines Menschen statt, so können sie wirklich als imaginär und eben nicht real bezeichnet werden. Von außen vorgegebene Grenzen sind dagegen durchaus real. Versuchen Sie nur einmal, nackt durch die Fußgängerzone zu gehen und sie werden sehr schnell die realen Grenzen der Schicklichkeit erfahren. Oder bunt gekleidet und singend eine Beerdigung zu besuchen. In Sekundenschnelle wird Ihnen dann die Grenze der Pietät bewusst gemacht.

Grenzen existieren in allen Bereichen und Größenordnungen. Sie manifestieren sich zwischen Kulturen, zwischen Personengruppen oder auch zwischen Einzelpersonen. Eine zentrale Unterscheidung könnte hier zwischen außerkulturellen und innerkulturellen Grenzen getroffen werden. Außerkulturelle Grenzen beziehen sich auf alle Dinge, mit denen sich Kulturkreise voneinander unterscheiden und bewusst abgrenzen. Dabei handelt es sich um Dinge wie Traditionen, Religion, Sprache und auch Aussehen. Außerkulturelle Grenzen werden oft betont, um das Gegenüber in die Fremdheit zu drängen und zu einer positiven Selbstdarstellung zu gelangen. Aber auch innerhalb einer Kultur existieren mannigfaltige Grenzen, wie etwa Klassenzugehörigkeit, Bildungsgrad, Geschlecht, politische oder sexuelle Orientierung. Die aufgeführten Dinge sind in erster Linie nur Unterschiede. Zu Grenzen werden sie erst durch die Handlungen der Menschen, die Unterschiede zur bewussten Abgrenzung nutzen. Diese Handlung ist uns zumeist gar nicht mehr bewusst. Hardt schreibt: „Wir sind in unserer Gesellschaft so konditioniert, dass wir Grenzen als gegeben akzeptieren. Neue Grenzen akzeptieren wir meist widerspruchslos. Bestehende Grenzen dagegen abzuschaffen ist meist ein kompliziertes Unterfangen.“ [3] Natürlich gibt es unterschiedliche Arten von Menschen, die Grenzen jeweils anders wahrnehmen und akzeptieren, worauf auch Hardt hinweist [4] : Eher konservative Menschen akzeptieren und brauchen Grenzen, um ihren Alltag zu strukturieren. Progressive Persönlichkeiten werden durch Grenzen eher beschränkt und leben stets in der Nähe der Grenzüberschreitung. Außerhalb dieser Persönlichkeitsausrichtung existieren auch noch die Machthaber, die für sich selbst Grenzen nur schwerlich oder nicht akzeptieren, sie für andere aber setzen. Politiker können beispielsweise solche Machthaber sein.

Wir werden jedoch nicht nur inner- und außerkulturell durch Grenzen bestimmt, sondern auch imaginär. Im Hinblick auf die gedanklichen Grenzen in jedem Menschen möchte ich besonders auf die menschliche Grenze der Wahrnehmung und davon abhängig der Empathie hinweisen. Manche Menschen sind sehr empathisch, manche sind es eher weniger. Was uns alle verbindet, ist die Fähigkeit zur psychologischen Abschottung. Aus welchem Grund auch immer – hin und wieder fehlen uns bewusst oder unbewusst Verständnis und Empathie für das Gegenüber. Und diese psychologische Abgrenzung führt dann zur Alteritätskonstruktion, also zur Bildung von Fremdheit im Anderen. Wir sehen: unsere gesamte Lebenswelt besteht aus Grenzen. Manche sind uns stets bewusst, wie Zäune oder Verbotsschilder. Andere sind weniger auffällig, wie die gedankliche Abgrenzung von „Anderen“. Und mit dieser Abgrenzung befinden wir uns auch immer in gefährlicher Nähe zu Fremdenhass und Feindbildern, wie dem Flüchtlingsfeindbild.

Identitätskonstruktionen sind, wie bereits festgestellt, notwendigerweise mit der Unterscheidung zwischen „ich“ und „die Anderen“ verknüpft. Feindbilder basieren nun auf genau diesen Strukturen und verwandeln „die Anderen“ in Feinde, von denen es sich abzugrenzen und zu schützen gilt.

Dieses Werbeplakat ist ein klassisches Beispiel für das Schüren von Fremdenhass und die Ablehnung der „Anderen“. Der Verein für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit nutzt das Feindbild des gewalttätigen Flüchtlings als Abschreckung und Werbung für die Politik der AfD. Das „ich“ der Identitätsschaffung wird hier zu einem „wir“ und setzt dem Fremden so eine homogene Gemeinschaft gegenüber, mit der man sich identifizieren kann und soll. [5] In diesem Fall wird das „wir“ mit „unsere Frauen und Töchter“ ausgespielt. Der Historiker und Vertreter der Vorurteilsforschung Wolfgang Benz betont:

„Im gesellschaftlichen Alltag vollziehen sich Wahrnehmung und Verhalten zwischen einzelnen Gruppen, also auch Mehrheiten und Minderheiten, über Freund- und Feindbilder, die sich durch Informationen konstituieren. Ein beträchtlicher Teil der Information besteht aus Ressentiments, die sich aus Stereotypen und Klischees speisen.“ [6]

Er wirft in diesem Zitat mit einigen Begriffen um sich, die alle mit der Feindbildthematik zusammenhängen und die deshalb einer kurzen Klärung bedürfen. Es handelt sich um Stereotyp (oder auch Klischee), Vorurteil und Ressentiment. Sie alle dienen, aufeinander aufbauend, der Konstruktion eines Feindbildes. Ein Stereotyp ist ein vereinfachendes, verallgemeinerndes Urteil, bzw. ein festes, klischeehaftes Bild eines Menschen. Als Zuschreibungen sorgen Stereotype dafür, dass Menschen rasch und ohne viel zu reflektieren eingeordnet werden können. Das typische „Schubladendenken“ des Menschen kann nur durch Stereotype funktionieren. Ein Vorurteil geht ein wenig weiter. Hierbei handelt es sich um eine vorschnell gefasste oder von jemand anderem übernommene Meinung – meist negativer Natur – gegenüber etwas oder jemandem. Objektive Betrachtungen werden durch Vorurteile verhindert, bzw. von diesen ausgeschlossen. Das Ressentiment baut auf diesem verzerrten Blick des Vorurteils auf. Aus dem Französischen entlehnt, kann es mit „Groll“ übersetzt werden. Der Duden definiert das Ressentiment als „auf Vorurteilen, einem Gefühl der Unterlegenheit, Neid o. Ä. beruhende gefühlsmäßige, oft unbewusste Abneigung“ [7]. Das Ressentiment beinhaltet dementsprechend ein sehr negatives Bild des Gegenübers. Wichtig zu wissen ist, dass „Ressentiments und Vorurteile austauschbar sind und immer wieder einer anderen Volksgruppe zugeschrieben werden.“ [8] Die tatsächlichen Eigenschaften und Charakteristika eines Menschen oder einer Gruppe werden durch ihnen zugeschriebene Eigenschaften überlagert. Und auf genau diesen zugeschriebenen Eigenschaften basieren Fremdenhass und Feindbilder.

Was also ist ein Feindbild? Der Duden sagt eine „Vorstellung von einer Person oder Sache als von einem Feind, Gegner, als von etwas Feindlichem, Bedrohlichem“ [9]. Feindbilder existieren allerdings nicht im luftleeren Raum. Sie werden bewusst aufgebaut, geschürt und instrumentalisiert. Dabei werden verschiedene Ziele verfolgt. Zum einen fungieren ausgegrenzte Gruppen stets als Sündenbock in Verbindung mit der Zuschreibung negativer Eigenschaften. [10] Das geschah schon bei den Hexen im Mittelalter und geschieht auch heute, wenn die Schuld bei Flüchtlingen oder auch simpel „Ausländern“ gesucht wird. Der negativen Fremddarstellung wird dabei stets eine positive Selbstdarstellung entgegengesetzt. [11] Die wichtigste Funktion eines Feindbildes ist aber wohl der Aufbau einer kollektiven Identität. Indem ein abgegrenztes Außen geschaffen wird, können unterschiedlichste Menschen vereint werden zu einer homogenen Gruppe. Diktatoren wie Adolf Hitler haben das sogar ausformuliert, wobei ich diese Worte heute nicht mehr wiederholen möchte. Sprache und andere Systeme der menschlichen Kommunikation werden im Hinblick auf Feindbilder stets dafür verwendet, die Unterschiede zu betonen und dadurch die imaginäre Grenze zwischen „uns“ und „den Anderen“ zu stärken.

Die Funktionalisierung von Feindbildern kann, wie bereits angesprochen, auch heute in Bezug auf Flüchtlinge beobachtet werden. Der deutsche Psychologe und Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer schreibt: „Die ungebremste Demagogie auf der Ebene der Politik und der Medien ist ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Flüchtlinge.“ [12] Dies kann allerdings nur funktionieren, wenn es in der Bevölkerung auch eine Bereitschaft gibt, dem zu folgen. Dementsprechend destilliert er drei Faktoren für die Durchsetzung für Fremdenhass: Demagogie, Persönlichkeit (also die psychische Disposition) und soziale Situation. Ottomeyers These, der ich grundlegend zustimmen würde, ist, dass Fremdenfeindlichkeit als Ausdruck psychischer Spannungen im Individuum entsteht und von Demagogen angefacht wird. [13] Wie diese psychischen Vorgänge funktionieren und das medial ausgenutzt wird, möchte ich im Folgenden noch ein wenig näher beleuchten.

Ottomeyer geht von der Aussage Sigmund Freuds aus, dass das Ich sich konstant mit drei Elementen der Wirklichkeit auseinandersetzen muss: Mit der Bewältigung der Realität, mit seinen eigenen Es-Impulsen bzw. asozialen Regungen und schließlich mit dem eigenen Gewissen oder Über-Ich. [14] Daraus ergeben sich dann drei große Ängste für den Menschen. Die Realangst, also die Furcht vor grundlegenden Problematiken des menschlichen Lebens wie Verletzung, Krankheit, Geld, Wohnsituation und Tod. [15] Die neurotische Angst, in Bezug auf das eigene Es, also die grundlegenden Triebe im Menschen, die außer Kontrolle geraten könnten. [16] Und die Gewissensangst, die sich auf die strenge des Über-Ichs in seiner Gewissensfunktion bezieht und die Laune und Lebensfreude verringern kann. [17] Diese drei Ebenen der Angst greifen bei Feindbildkonstruktionen und spezifisch der Diskussion über Flüchtlinge ineinander. Ein ungefestigtes „Ich“ sieht in einem Feindbild die Möglichkeit, sich über jemanden zu erheben. Diese Erhebung kann so weit führen, dass das Gegenüber nicht mehr als menschliches Wesen wahrgenommen wird. Was das für Folgen haben kann, hat uns der Nationalsozialismus gelehrt. Der Unterdrücker entwickelt die Kunst der Verdrängung sowie mannigfaltige Bewältigungsstrategien, um mit der eigenen Unmenschlichkeit klarzukommen. Das sieht man in unterschiedlichen Formen auch in der Flüchtlingsdebatte.

Flüchtlinge sind Menschen. Menschen, die fast ausschließlich vor Krieg, Unterdrückung, Armut oder anderen lebensunwürdigen Situationen fliehen. Wie kann es passieren, dass Hilfsbedürftige auch eine starke Ablehnung, ja Verachtung erfahren? Jeder Mensch setzt Grenzen. Das haben wir bereits verinnerlicht. Für uns in der westlichen Welt sind oft die Grenzen des Alltags, der „heilen Welt“ und der Annehmlichkeit zentral. Diese Grenzen werden durch Flüchtlinge überschritten und dadurch sichtbar gemacht. Sie bringen die von uns oftmals verdrängten, angsterregenden Dinge – wie eben Krieg, Unterdrückung oder Armut – zurück in unser Gedächtnis. Und an genau diesem Punkt greifen die Abwehr- und Bewältigungsmechanismen des Menschen, die sich eine „Normalisierung“ [18], wie es Klaus Ottomeyer formuliert, wünschen. Die Folgen dieser Verdrängung beschreibt wiederum Wolfgang Benz: „Existenzielle Probleme von Minderheiten, die deren Angehörige zur Flucht veranlassen, werden in aller Regel von den Offiziellen der Mehrheit marginalisiert oder geleugnet.“ [19] Politisch werden solche Aussagen eingesetzt, um die Massen zu polen.

Im Einzelnen greifen realitätsbezogene Strategien der Bewältigung, ein sogenanntes „Coping“ und andere Abwehrmechanismen des Ichs. [20] Auch hier finden wiederum Spaltungen in Gute und Böse statt, sowie Dehumanisierung oder Identifizierung mit dem Angreifer, um sich selbst zu erhöhen. [21] Die moralische Hilfsverpflichtung – ausgelöst vom Über-Ich – mündet in ein schlechtes Gewissen, das so verdrängt werden kann. Das passiert auch durch eine Pauschalisierung, in der alle Flüchtlinge zu Simulanten bzw. „Wirtschaftsflüchtlingen“ erklärt werden, wobei einzelne oder erfundene Geschichten zur allgemeinen Wahrheit aufgebauscht werden. [22] Wahrheitsgetreue von verzerrten Mediendarstellungen zu unterscheiden ist nicht immer einfach.

Im Zuge dieser Gewissensangst wird auch versucht, Helfer moralisch abzuwerten. Oft ist die Seenotrettung ein Ziel der Angriffe. Kapitäne, wie Carola Rackete und ganze Besatzungen müssen sich oft den Vorwurf einer Schlepper- oder Schleusertätigkeit anhören. Klaus Ottomeyer schreibt zu diesem Thema:

„Die Ablehnung des Gewissens kann zu einem Hass auf alle diejenigen werden, die an das Gewissen erinnern, also die Opfer selbst, aber auch diejenigen, die den Opfern offenkundig helfen und damit so etwas wie eine lebendige Anklage gegen den verbreiteten Egozentrismus in die Welt setzen.“ [23]

Neben den Gewissensängsten spielen Realängste – oft vermischt mit phantasierten Ängsten oder auch der Projektion auf Flüchtlinge – eine große Rolle im Feindbild. Das hier gezeigte Neonazi-Plakat bezieht sich auf die Angst, dass Flüchtlinge zu viel Geld erhalten, das lieber für die eigene Bevölkerung eingesetzt werden sollte.

Besonders im Hinblick auf die Soziale Grundsicherung in Deutschland (also Arbeitslosengeld, etc.) ist dieses Vorurteil tatsächlich häufig zu hören. Vergleicht man die gesetzlichen Regelsätze der Sozialen Grundsicherung mit denen des Asylbewerberleistungsgesetzes, kann dieses Vorurteil abgebaut werden. Einem alleinstehenden Asylbewerber werden insgesamt 344 € zur Verfügung gestellt. [24] Ein Alleinstehender, der die soziale Grundsicherung in Deutschland in Anspruch nimmt, bekommt hingegen 424 €. [25] Betrachtet man die Vorurteile und Ängste gegenüber Flüchtlingen, kann festgestellt werden, dass die Realitätsprüfung als wichtigste Aufgabe des Ichs im Hinblick auf Geldfragen und ähnliche Dinge oft versagt. [26] Gleiches gilt für die neurotischen Ängste des Menschen. Auch hier werden die eigenen Trieb-Ängste, so wie Gier, Aggression oder Lust oft auf Flüchtlinge projiziert. Besonders auffällig ist die Betonung der kriminellen Ebene.

Karten, wie diese sogenannte „Karte des Schreckens“ sind auf konservativen oder rechten Internetseiten immer wieder zu finden. Sie listen angeblich von Flüchtlingen begangene Verbrechen auf, um so die angeblich gestiegene Kriminalitätsrate zu untermauern und einen Schuldigen zu benennen. Genannt werden dabei allerdings kriminelle Einzelfälle, um die Vorurteile gegen alle Flüchtlinge zu schüren. Ähnlich differenziert wäre es zu behaupten, dass alle Deutschen kriminell sind, weil es einen Kriminellen deutscher Herkunft gibt. Einige Punkt auf diesen Karten sind auch lediglich Flüchtlingen zugeschrieben, andere entsprechen grundlegend nicht wahren Begebenheiten. Es ist klassisches Schubladendenken, das im Fall von Flucht und Migration zu Fremdenhass führt. Dabei zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik, dass wir 2018 die niedrigste Zahl verübter Straftaten seit 1992 hatten. [27] Es kommt auch immer wieder vor, dass Geschichten erfunden werden. [28] Dass diese geglaubt werden, liegt wohl daran, dass persönliche Geschichten oft überzeugender als Fakten sind, wie auch schon der politische Berater Frank Luntz in einem Memo bezüglich George W. Bushs Regierungsstrategie feststellte: „A compelling story, even if factually inaccurate, can be more emotionally compelling than a dry recitation of the truth…“ [29]

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Abwertung von Kindern eingehen. Diese ist psychologisch besonders schwierig, weil das Kindchen-Schema einen Beschützerinstinkt in uns weckt. Die meisten Kinderbilder werden – das muss ich leider eingestehen – auch eher instrumentalisiert um Mitleid zu erregen. Strategien der Abwertung von Kindern bringen diese in Verbindung mit Kriminalität oder arbeiten mit der Verdrehung von Tatsachen. [30]

Zu sehen war hier ein künstlerisches Denkmal für das im Meer ertrunkene Kind Alan Kurdi. Die ursprüngliche Fotografie ging vielfach durch die Presse, wobei von Hasschreibern oft der Vater als Sündenbock genutzt wurde, um die Schuld abzuwälzen. [31] Hier zu sehen ist nun, wie das Bild beschmiert wurde mit dem Hinweis „Grenzen retten Leben“, also der Forderung die Grenzen zu schließen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt.

„Grenzen retten Leben“… Nach allem was Sie gerade über die Imagination von Grenzen gehört haben, nach allem, was Sie selbst über Grenzen wissen…

Denken Sie, das stimmt?



Verweise
[1] Anton Pelinka: „Die Grenzen Europas“. In: B. Burtscher-Bechter [Hg.]:  Grenzen & Entgrenzungen. Historische & kulturwissenschaftliche Überlegungen am Beispiel des Mittelmeerraums. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006, S. 81.
[2] Vgl. Michael Hardt: „Grenzen sind imaginär“. Entn. michael-hardt. <www.michael-hardt.com/PDF/design-consultant/Grenzen_sind_imaginaer.pdf>, 2005,  S. 2.
[3] Hardt 2005, S. 3
[4] Hardt 2005, S. 3
[5] Vgl. Ruth Wodak: „Politik der Angst. Die diskursive Konstruktion von Fremdheit“. In: Wolfgang Benz [Hg.]: Vom Alltagskonflikt zur Massengewalt. Schwalbach: Wochenschau, 2017, S. 34.
[6] Wolfgang Benz: „Minderheiten als Katalysatoren der Identität der Mehrheit“. In: Wolfgang Benz [Hg.]: Vom Alltagskonflikt zur Massengewalt. Schwalbach: Wochenschau, 2017, S. 53.
[7] Bibliographisches Institut GmbH: „Ressentiment, das“. Entn. Duden. <https://www.duden.de/rechtschreibung/ Ressentiment>, 2019.
[8] Benz 2017a, S. 54.
[9] Bibliographisches Institut: „Feindbild, das”. Entn. Duden. <https://www.duden.de/rechtschreibung/Feindbild>, 2019.
[10] Vgl. Wodak 2017, S. 34.
[11] Vgl. Wodak 2017, S. 38.
[12] Klaus Ottomeyer: „An der Grenze. Unser Umgang mit den Flüchtlingen zwischen Mitgefühl und Abwehr“. In: Wolfgang Benz [Hg.]: Vom Alltagskonflikt zur Massengewalt. Schwalbach: Wochenschau, 2017, S. 184.
[13] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 184.
[14] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 184.
[15] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 184.
[16] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 185.
[17] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 185.
[18] Ottomeyer 2017, S. 180.
[19] Benz 2017, S. 59.
[20] Ottomeyer 2017, S. 185.
[21] Ottomeyer 2017, S. 185f.
[22] Ottomeyer 2017, S. 190.
[23] Ottomeyer 2017, S. 190.
[24] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: „Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes“.Entn. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. <https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/reform-asylbewerberleistungsgesetz.html>.
[25] Vgl. Bundesregierung: „Regelsätze sind gestiegen“. Entn. Bundesregierung. <https://www.bundesregierung. de/breg-de/aktuelles/regelsaetze-sind-gestiegen-1522244>.
[26] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 188.
[27] Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: „Kriminalität in Deutschland“. Entn. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. <https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit /kriminalitaetsbekaempfung-und-gefahrenabwehr/daten-zu-kriminalitaet/daten-zu-kriminalitaet-node.html>.
[28] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 194/195.
[29] Frank Luntz. In: “Memo exposes Bush’s new strategy”, The Guardian. <https://www.theguardian.com/ environment/2003/mar/04/usnews.climatechange>, 2003.
[30] Vgl. Ottomeyer 2017, S. 191.
[31] Vgl. beispielsweise Michael Stürzenberger: „Vater des toten „Flüchtlings“-Kindes lebte in Türkei und wollte für neue Zähne nach Europa“. Entn. PI News. <http://www.pi-news.net/2015/09/vater-des-toten-fluechtlings-kindes-lebte-in-tuerkei-und-wollte-fuer-neue-zaehne-nach-europa/>, 2015.

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