Eine Filmeinführung von Karolin Tybus (vorgetragen am 21.01.2020 im Rahmen der Mittelmeer-Filmtage in München)

IL SE PASSE QUELQUE CHOSE (Something is Happening)
Frankreich 2018 | Regie: Anne Alix | 101 Min. | Spielfilm, Drama

Il se Passe Quelque Chose ist ein Drama aus dem Jahr 2018, das im selben Jahr unter anderem im Rahmen der Filmfestspiele in Cannes gezeigt wurde. Das Drehbuch zum Film schrieben Alexis Galmot und Anne Alix. Regisseurin Anne Alix, die selbst seit einigen Jahren in der Camargue lebt, wo der der Film spielt und auch gedreht wurde, hat mit Il se Passe Quelque Chose einen Film geschaffen, der sich auf besondere Weise mit der Thematik von Begegnungen zwischen Menschen verschiedenster Herkunft auseinandersetzt.

Zunächst möchte ich für Sie den Inhalt noch einmal kurz umreißen. Der Film erzählt die Geschichte der aus Bulgarien stammenden Irma, die nach dem Tod ihres Mannes ihren Platz in der Welt nicht mehr findet und der weltoffenen, unabhängigen Spanierin Dolorès, die an einem gay-friendly Reiseführer arbeitet. Beide begegnen sich durch einen Zufall und begeben sich auf einen gemeinsamen Roadtrip durch die Camargue zwischen Rhône und Mittelmeer – scheinbar auf der Suche nach einem neuen Start ins Leben. „Il se passe quelque chose“, „something is happening“, „es passiert etwas“ – der Name des Films ist Programm. Auf ganz subtile und ruhige Art wird dem Zuschauer das, was geschieht, durch die Begegnungen mit den verschiedenen Protagonisten im Film nähergebracht. Durch die Augen von Dolorès und Irma scheinen wir als Zuschauer erfahren zu können, wie die Camargue und ihre Bewohner wirklich sind.

Dieser Gedanke führt mich nun auch zu meinem wissenschaftlichen Ansatzpunkt zu Il se passe Quelque Chose. In ihren Notizen zum Film aus dem April 2017 (zu finden im Beiheft der DVD) schreibt Anne Alix, dass sie sich gern von der Realität inspirieren lässt – ich möchte hier auch erwähnen, dass sie bereits bei einigen Dokumentarfilmen Regie führte. So änderte sie die zuerst entworfene Struktur des Films dahingehend, dass Dolorès und Irma nun nicht mehr einfach nur mit erfundenen Charakteren, sondern mit den Menschen und deren Geschichten, die dem Team während der Suche nach Drehorten in der Camargue begegnet sind, zusammentreffen sollten. Hierbei sollte nun im Anschluss besonders herausgestellt werden, dass eigentlich niemand, mit dem das Team sprach, ursprünglich aus Frankreich stammt. Das Drehbuch, in dem die Geschichte von Dolorès und Irma verankert ist, bildet also lediglich einen Rahmen für das, was im Film wirklich gezeigt wird. In Il se Passe Quelque Chose treffen so gewissermaßen Fiktion und Realität aufeinander. Die Fiktion der Rahmenhandlung um die beiden Protagonistinnen nimmt die echten Geschichten in sich auf und lässt eine äußerst interessante Art des Dokumentarfilms entstehen. Auch in der Inszenierung werden wir dies gleich in einigen Teilen des Films sehen können.

Wie ich bereits am Anfang meines Vortrages erwähnt habe, ist Il se Passe Quelque Chose jedoch kein Dokumentarfilm sondern ein Drama. Die Hauptgeschichte, die wir als Zuschauer verfolgen sollen, ist, wie bereits von mir erwähnt, die von Irma und Dolorès. Deren Begegnungen mit den anderen Protagonisten spielen eine tragende Rolle. Sie helfen den beiden Frauen, sich weiterzuentwickeln, denn Veränderung ist eine grundlegende Charakteristik des Erzählens einer Geschichte. Fiktionale Werke haben in vielerlei Hinsicht den Anspruch, unsere Wirklichkeit abzubilden. In gewisser Weise also das Schaffen einer alternativen Realität in der wir uns als Rezipienten wiederfinden können. Sie werden aber unsere Realität niemals so exakt darstellen können, wie wir sie kennen. Il se Passe Quelque Chose baut hier eine faszinierende Brücke, bei der die Fiktion buchstäblich auf die Wirklichkeit trifft und von dieser beeinflusst wird.

Geht man also davon aus, dass der Film Züge eines künstlerischen Dokumentarfilmes aufweist, erschließt er für uns als Publikum ganz subtil eine reale Welt, die wir sonst womöglich nicht zu Gesicht bekommen hätten. Er zeigt die Diversität der Bewohner der Camargue – von Migranten und Flüchtlingen, die in Frankreich nach einem neuen, sichereren Leben suchen. Wie der Journalist und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer schreibt, bringt das Kino uns „Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten“ und fordert uns dazu auf, uns mit den realen Ereignissen, die es zeigt, kritisch auseinanderzusetzen (Kracauer 247). Wir fürchten das Fremde, das Andere – Dinge, die uns unbekannt sind, Dinge, die wir nicht gewohnt sind, Dinge, mit denen wir uns oft ungern auseinandersetzen wollen.

Il se Passe Quelque Chose lässt uns mit Irma und Dolorès eben solche Konfrontationen auf der Leinwand durchleben. Diese Konfrontationen haben aber durchaus keinen negativen Hintergrund. Ganz im Gegenteil. Die beiden Frauen lernen das ihnen zunächst Fremde in Begegnungen und Gesprächen kennen und nutzen ihre neu gewonnenen Erfahrungen und verändern sich durch diese. Fiktive Gesprächspartner und Geschichten hätten die Entwicklung von Dolorès und Irma natürlich genauso beeinflussen können, aber Anne Alix hat sich bewusst entschieden, ihr fiktionales Werk der Realität, in der es spielt, gegenüberzustellen, um die wirkliche Camargue zu zeigen. So ist ein Film entstanden, der fast unmerklich für uns als Zuschauer aktuelle Thematiken der europäischen Gesellschaft aufgreift und von diesen erzählt.


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Il se Passe Quelque Chose. Regie Anne Alix, Darbietungen von Bojena Horackova und Lola Dueñas, Shellac, 2018. DVD.

Kracauer, Siegfried. „Die Errettung der physischen Realität.“ Texte zur Theorie des Films, Reclam, 2017, S. 234 – 245.

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