filmimpuls. zu SELFIE (2019)

Eine Filmeinführung von Ruth Konrad (vorgetragen am 22.01.2020 im Rahmen der Mittelmeer-Filmtage in München)

SELFIE

Italien, Frankreich | 2019 | Regie: Agostino Ferrente | 77. Min | OmeU | Dokumentarfilm

Agostino Ferrentes künstlerischer Dokumentarfilm „Selfie“ gibt einen Einblick in das Leben der beiden 16-Jährigen Pietro und Alessandro. Beide haben die Schule abgebrochen und versuchen jetzt einen Job zu finden. Sie leben in Traiano, einem Bezirk von Neapel. In ihrem Viertel ist der Einfluss der Camorra an allen Ecken und Enden deutlich zu spüren. Dazu kommt, dass der tragische Tod des 16-Jährigen Davide Bifolco im September 2014 deutliche Spuren in den Gemütern der Bewohner des Viertels hinterlassen hat. Der Jugendliche wurde von einem Carabiniere erschossen, offiziell ein Unfall.  Die Aufnahmen für den Film entstanden 2017 und sind der Versuch des Regisseurs das Milieu nachzuzeichnen, aus dem der junge Davide stammte. Die beiden jungen Männer, Pietro und Alessandro, sind Davide nicht unähnlich, kannten ihn und sind wie er seinerseits auf der Suche nach einem Platz für sich in einer Welt in der die Zukunft vor allem Gewalt und Kriminalität verspricht. Dabei hat der Titel „Selfie“ eine ganz besondere Bedeutung für die Machart und Wirkung des Films.

Anstatt nämlich, wie in den allermeisten Filmen und auch Dokumentarfilmen üblich, mit einem Kamerateam seine Protagonisten zu begleiten oder in einem Interviewszenario aufzunehmen, hat Ferrente seinen zwei jugendlichen Protagonisten, selbst die Kamera – nämlich ein Smartphone – zur Hand gegeben. So wurden sie selbst zu Regisseuren und haben eine Art Mitspracherecht bekommen, wie ihr eigenes Leben aufgenommen und dokumentiert wird. Wichtig war dem Filmemacher dabei, dass Pietro und Alessandro nicht nur selbst filmen, sondern auch selbst im Bild zu sehen sind. Also ihr Leben selbst aus der Selfie-Perspektive aufnehmen. Im Ergebnis wurde für den fertigen Film, fast ausschließlich diese besondere Kameraeinstellung eingesetzt. Unterbrochen wird diese Perspektive stellenweise nur von Aufnahmen von Überwachungskameras aus dem Viertel, in dem die beiden leben und einigen Aufnahmen von weiteren Jugendlichen der Gegend, die von ihrem Leben erzählen; hier allerdings wird der Selfie-Modus beibehalten.

Das ist für mich als Filmwissenschaftlerin natürlich interessant, dass hier diese besondere Einstellung so dominant eingesetzt wird. Es lässt sich also folgende Fragestellung entwickeln: Warum wurde die Selfie-Perspektive gewählt? Was will der Regisseur damit ausdrücken bzw. welche besondere Wirkung wird durch den Selfie-Modus erzielt?

Dafür kurz ein paar Hintergrundinformation: Der Begriff Selfie ist die Verkürzung des englischen „self-portrait“ und wurde 2002 zum ersten Mal mit seiner heutigen Bedeutung in einem australischen Internetforum verwendet. Infolgedessen breitete sich der Begriff „Selfie“ rasant in der englischsprachigen Welt aus und wurde auch in viele andere Sprachen übernommen, zum Beispiel Deutsch und Italienisch.

Ein Selfie bezeichnet allgemein ein Foto, das von der abgebildeten Person selbst aufgenommen wurde, typischerweise mit einem Smartphone. Charakteristisch für ein Selfie ist außerdem der Blick des oder der Selfiefotograf/-in entweder direkt in die Kamera oder leicht daneben, bzw. darunter, nämlich auf den Smartphone-Bildschirm, in dem der- oder diejenige sich selbst sehen kann und so gegebenenfalls die Pose oder Kamerawinkel nach Belieben nochmals beeinflussen kann. Im Unterschied zu einem normalen Bild, in dem ein Fotograf ein Foto von einem Motiv aufnimmt, sehen wir auf einem Selfie gleich den ganzen Prozess abgebildet. Der Fotograf eines Selfies ist gleichzeitig das Motiv des Selfies. Im Film sind einige solche Momente zu sehen, in denen Pietro und Alessandro gezeigt werden, wie sie sich selbst in der Aufnahme betrachten und dann Kamerawinkel oder Pose nochmal anpassen.

Selfies sind historisch betrachtet ein sehr junges, also zeitgenössisches Phänomen.  Seit der Einführung von Frontkameras in Smartphones und insbesondere seit unser soziales Leben immer weiter von virtuellen sozialen Netzwerken durchdrungen wird, ist der Bildtyp Selfie ein beliebtes Mittel der Selbstdarstellung geworden. Auf Instagram zum Beispiel lassen sich unter dem Hashtag #selfie über 410 Millionen Selbstbildnisse finden. Selfies gehören insbesondere für Jugendliche zum Alltag dazu.

Es lässt sich daher eine erste These aufstellen, dass der Regisseur bewusst diese Kameraeinstellung ausgewählt hat, um mit der Selfie-Perspektive moderne Kommunikationsmethoden nachzuempfinden, um den Jugendlichen eine Möglichkeit zu geben, sich in einer Weise auszudrücken, die für sie in den sozialen Medien alltäglich ist. Der Selfie-Modus macht Pietro und Alessandro dabei fast schon zu Co-Regisseuren, das wird besonders dann deutlich, wenn sie im Film selbst darüber diskutieren welche Szenen sie zeigen wollen und welche sie vielleicht lieber nicht aufnehmen wollen. Alessandro insbesondere ist es wichtig ein positives Bild von ihrem Leben zu porträtieren. In diesen Szenen wird deutlich, wie wichtig es Ferrente war, Alessandro und Pietro ein gewisses Maß an Kontrolle über ihr eigenes Narrativ zu geben.

Ebenso interessant ist, dass das Selfie zwar eine Erfindung des 21. Jahrhunderts sein mag, jedoch das Selbst-porträt, und nichts anderes ist ein Selfie ja – schließlich ist schon der Name die Verkürzung des englischen self-portrait – blickt auf eine wesentlich längere Tradition in der Kunstgeschichte zurück. Ab der frühen Renaissance in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts können einige Maler/-innen in ihren eigenen Gemälden identifiziert werden, die sich also selbst in ihren Gemälden verewigt haben. Albrecht Dürrer beispielsweise ist bekannt für seine Selbstporträts aus dieser Zeit, später experimentierten beispielsweise auch Vincent Van Gogh, Andy Warhol und Frida Kahlo mit der Form des Selbst-Porträtierens.

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Von Albrecht Dürer – Fig 36 from Self Portrait: Renaissance to Contemporary (Anthony Bond, Joanna Woodall, ISBN 978-1855143579)., Gemeinfrei, Link

Der Vergleich eines gemalten Selbstporträts und eines Selfies lenkt den Blick zunächst vor allem auf die Unterschiede. Augenscheinlich gibt es große Differenzen was den Produktionsprozess, das Medium selbst und typische Komposition anbelangt. In der Produktion eines gemalten Selbstporträts steckt beispielsweise ein viel größerer zeitlicher und finanzieller Aufwand. Die Produktion eines Selfies dagegen ist eine Sache von wenigen Sekunden, die bei genügend Speicherplatz auf dem Aufnahmegerät auch quasi beliebig oft wiederholt werden kann. Während Van Gogh beispielsweise in seinem Oeuvre eine erstaunlich große Anzahl von 43 Selbstporträts zählt, kann es gut sein, dass besonders motivierte Selfie-Fotographen/-innen eine so große Anzahl an Selbstbildnissen an einem einzigen Tag schießen. Außerdem, wer selbst schon mal ein Selfie aufgenommen hat, weiß vielleicht, dass es häufig eben gerade nicht bei einem singulärer Schnappschuss bleibt, sondern ein Selfie das Ergebnis vieler in kurzer Abfolge hintereinander aufgenommener Bilder ist, aus denen dann das Attraktivste herausgesucht wird.  

Trotzdem lassen sich auch Gemeinsamkeiten finden. Das Selbstporträt in der Malerei bietet sich für die Selbstinszenierung ebenso an wie das Selfie. Wenn auch viel aufwändiger in der Produktion, ist das Selbstporträt für einen oder eine Maler/-in die Gelegenheit sich selbst im besten Licht zu präsentieren oder besondere Ereignisse wie den eigenen Status festzuhalten. Ebenso ist auch das Aufnehmen eines Selfies heutzutage häufig davon motiviert, einen bestimmten Moment, wie etwa eine Urlaubsreise, zu dokumentieren oder eine Errungenschaft, wie beispielsweise den Waschbrettbauch oder den Studienabschluss, festzuhalten.

Obwohl also Selfies viel häufiger und zu viel alltäglicheren Gelegenheiten aufgenommen werden, drücken sich darin trotzdem ähnliche Motivationen wie in den Selbstporträts aus der Malerei aus. Sie sagen etwas über den oder die Schöpfer/-in des Selbstbildnisses aus, aber vermitteln auch etwas über Menschen im Allgemeinen. Es wird deutlich, dass es ein grundlegendes menschliches Verlangen zu geben scheint, einen bestimmten Moment festhalten zu wollen, das eigene Leben, die eigene Persönlichkeit und die äußere Erscheinung dokumentieren zu wollen. Den Wunsch die aktuelle Situation, Stimmung oder Gefühle einzufangen, um so die eigenen Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen. Insbesondere der direkte Blick des Selbstbildnisses auf den oder die Betrachter/-in lädt zur Empathie ein.

Die Selfie-Perspektive in Ferrentes Film hat mit Blick auf die Tradition des Selbstporträts einen ähnlichen Effekt. Alessandro und Pietro, als Jugendliche aus Neapel, sind es gewohnt in der medialen Berichterstattung auf schwarz-weiß gezeichnete Stereotype reduziert zu werden. Während Gewalt und Kriminalität zwar in ihrem Umfeld stark zu spüren sind, hat das Leben der beiden Jugendlichen doch so viel mehr Schattierungen. Ferrentes Film und insbesondere die Selfie-Einstellung gibt ihnen die Möglichkeit die gängigen Klischees zu überwinden, indem sie selbst die Erzählerposition einnehmen. Wir sehen wie zärtlich die beiden miteinander umgehen können und welche alltäglichen Sorgen sie plagen. Der Film gibt ihnen so eine Plattform und eine selbstbestimmte Ausdrucksweise, die ihnen in den üblichen medialen Strukturen nur selten zugestanden wird.

filmimpuls. zu LA MER DU MILIEU (2019)

Eine Filmeinführung von Paulina Kutschka (vorgetragen am 19.01.2020 im Rahmen der Mittelmeer-Filmtage in München)

LA MER DU MILIEU (Mittelmeer)

Frankreich 2019 | Regie: Jean-Marc Chapoulie | Nathalie Quintane | 73 Min. | Dokumentarfilm

Bei dem Dokumentarfilm LA MER DU MILIEU des französischen Filmemachers Jean-Marc Chapoulie aus dem Jahr 2019 handelt es sich um einen Found Footage Film, sprich der Filmemacher verwendet ausschließlich Filmmaterial von online zugänglichen Webcams und Überwachungskameras, welche an Badestränden, Uferpromenaden, Häfen und Hotelanlagen der Mittelmeerküste installiert sind.

Die ersten Assoziationen, welche viele bei dem Gedanken an die Aufzeichnungen von Überwachungskameras haben, sind wahrscheinlich eintönige, ereignislose und sich schrecklich in die Länge ziehende Filmaufnahmen. Stunde um Stunde zeichnen die Apparate die gleiche Umgebung auf: je nach beobachteten Standort mal mehr und mal weniger oft durch das Erscheinen und anschließende Verschwinden von Personen unterbrochen, was zumindest ein bisschen Abwechslung in die ansonsten oft bewegungsarmen Bilder bringt. Der Informationsgehalt der Bilder scheint ohne die Personen gering.

Der Dialog aus dem Off zwischen dem Filmemacher und seinem Sohn, während sie sich gemeinsam die Aufnahmen einer Überwachungskamera anschauen, weist darauf hin, dass wir mit der Kamera als Instrument der Überwachung hoffen, etwas beobachten zu können, was uns normalerweise verborgen geblieben wäre – ein Verbrechen zum Beispiel oder eine andere Art Spektakel. Und vielleicht rührt aus dieser Hoffnung auch die Faszination der Aufnahme – es könnte ja etwas passieren! Für diesen Fall wurden die Kameras schließlich installiert, oder? 

Der Regisseur Chapoulie fügt den Bildern der Kamera in seinem Film eine Informationsebene hinzu, die diese normalerweise nicht besitzen – Sound. Wir lernen viel aus den Geräuschen – kleine Bewegungen, welche unseren wachsamen Augen eventuell entgangen wären, werden durch de auditive Wahrnehmung erst hervorgehoben.

Und trotzdem – die Bilder bleiben auch auf der Kinoleinwand, wie gewohnt, nur das zweidimensionale Abbild eines dreidimensionalen Raumes. Den Zweck hinter der Überwachung leiten wir uns oft aus der Vorstellung des Wächters ab, welcher angestrengt im dunklen Kontrollraum sitzt. Dort hängt ein Bildschirm neben dem anderen und auf jedem flimmert das übertragene Bild einer stumm starrenden Kamera. Die Augen des Wächters warten wachsam auf eine Abweichung von der Norm, auf das Außergewöhnliche. Das Licht im Kontrollraum ist wie hier im Kinoraum gedimmt, damit nichts das Auge ablenken könnte und der Blick nicht von den Bildschirmen weicht. Hinter diesem Prozess steckt die Hoffnung der Prävention von Gefahr sowie die Möglichkeit der Intervention bei Gefahr. Eine solcher Einsatz von Überwachungskameras ist natürlich mit hohem Personal- und Kostenaufwand verbunden. Damit sich dieser Aufwand rentiert, müssen die Räume, die für den Einsatz und die Installation von Kameras ausgewählt werden, also auch die Räume sein, die als überwachungsrelevant gelten – hier fallen uns wohl als prominenteste Beispiele Bahnhofshallen oder -vorplätze ein, die einen Ruf als gefährlicher Ort haben. Der Installation von Überwachungskameras an diesen als unsicher eingestuften Orten folgt die Exklusion bestimmter, unerwünschter Personengruppen aus diesem – betont – öffentlichen Raum. Gemeint ist, dass Personen, die von der Norm abweichen, aus dem von der Kamera erschlossenen Raum verdrängt werden. So wird die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und damit auch die Kontrolle über den öffentlichen Raum sichergestellt. Das wiederum ist die Folge individueller Interessen, wie zum Beispiel denen von Einzelhändlern, Räume attraktiv und vermeintlich sicher für Kunden oder Touristen zu gestalten und die Aufenthaltsqualität zu steigern.

Was ich mit diesem unangenehmen Gedanken über Überwachungskameras ausdrücken möchte, ist, dass die Möglichkeit besteht durch das Instrument der öffentlich installierten Kamera Räume zu konstruieren. Wir erschaffen Grenzen, indem wir zwischen dem, was sich im Sichtfeld der Kamera befindet und dem was außerhalb dieses Sichtfelds liegt, unterscheiden. Diese Räume können in der Folge sogar klassifiziert werden, zum Beispiel nach ihrem Grad der Sicherheit. Das heißt, vergleichbar mit der Einteilung unserer Erdoberfläche in Regionen, Kommunen und Länder, funktioniert auch eine geografische Aufteilung in Räume durch permanente Bildaufzeichnung. Überwachung kann somit grundsätzlich als Versuch der Orientierung gesehen werden. Gleich dem Prozess der Zeichnung einer Landkarte wird eine Übersicht über Welt und Umwelt geschaffen. Die Installation von Kameras ist in diesem Sinne eine Kartierung unseres gesellschaftlichen Lebens und folgt dem Ziel, die Welt in bestimmte soziale, geografische und politische Räume zu unterteilen. Dies steht auch ganz in der Tradition der Kartographie, denn Karten galten schon immer als ein bedeutendes Medium im Hinblick auf das Archivieren und Vermitteln geographischen Wissens. In der Geschichte lassen sich etliche Beispiele finden, in denen gute Karten auf politischer Ebene ein Instrument der Macht darstellen. So sind sie etwa essentiell für die Seefahrt und spielten eine große Rolle in der Erschließung des Mediterran, sprich des Mittelmeerraumes, für Handelszwecke.

Wem also in meiner Argumentationskette aufgefallen ist, dass ich moderne Überwachungstechnologien, wie z. B. die biometrische Datenauswertung im Sinne der automatischen Gesichtserkennung etc., unerwähnt gelassen habe, die das Problem des Personalaufwands relativieren würde, kann erkennen, dass es letztlich keinen Unterschied für die Einteilung, Ordnung und Klassifizierung unserer Erde in Bildräume macht, wer beobachtet. Diesen räumlichen Informationsgehalt der Bilder finden wir auch im Material der im Netz freizugänglichen Webcams und Kameras aus Chapoulies Film wieder – denn wir alle prüfen doch gerne anhand der online Webcams das Wetter am Meer – oder in unsere Breitengraden wohl eher das Wetter am See – bevor wir uns entscheiden, zur Spritztour aufzubrechen und Live-Aufnahmen vom vier Sterne Hotel , bevor wir das All Inclusive Programm buchen, ist doch auch einfach extrem praktisch, oder? Wir wünschen uns Information und Wissen über unsere Erde und konstruieren dies durch die Bilder der Überwachung.

Der Film eröffnet gleichzeitig einen sprachlichen Zugang zu diesem Wissen. Chapoulie schafft ein poetisch anmutendes Mosaik aus Worten und Gesprächen, die nicht nur das Beobachtbare reflektieren, sondern auch über die Grenzen der Bilder hinweg das Leben um und auf dem Mittelmeer hinterfragen. Wir lauschen dem Dialog zwischen dem Filmemacher und seinem Sohn, zu denen sich noch die Stimme der französischen Schriftstellerin Nathalie Quintane gesellt. Gemeinsam eröffnen sie uns Betrachtungsmöglichkeiten auf einen Raum, dessen geographische Zusammengehörigkeit durch das Mittelmeer geschaffen wird und welcher folglich mit Vielfalt und Diversität angefüllt ist. Doch die Reise auf diesem Meer zeigt auch wie dieser Raum durch politische Grenzen, aber ebenso durch geographische Distanz gespalten wird. Ein Überbrücken dieser Grenzen wird durch das Meer in seiner Mitte noch erschwert.

Was Jean-Marc Chapoulie nun mit seinem Dokumentarfilm LA MER DU MILIEU gelingt, ist eine Kartierung der Küstenregionen des Mittelmeeres, eine Erschließung der Region über die Aufzeichnung der Kameras im öffentlichen Raum und damit eine Annäherung an einen Raum, welcher verbindet und gleichzeitig trennt und somit schon per se voller Widersprüche steckt. Ich lade Sie nun dazu ein, sich auf diesem Meer von Bildern und Worten treiben zu lassen und den mediterranen Raum in seinem eigenwilligen Wesen zu erkunden.

filmimpuls. zu USTAV REPUBLIKE HRVATSKE (The Constitution, 2016)

Eine Filmeinführung von Natascha Herr (vorgetragen am 24.01.2020 im Rahmen der Mittelmeer-Filmtage in München)

USTAV REPUBLIKE HRVATSKE (The Constitution)
Kroatien | Slowenien | GB | Tschechien 2016 | Regie: Rajko Grlić | 93 Min | Spielfilm

Mein Vortrag soll mit ein paar Worten zum kroatischen Regisseur Rajko Grlić beginnen: Sein Film „The Melody Haunts My Reverie“ aus den 1980er-Jahren, der damals aufgrund seiner ideologiekritischen Inhalte zu politischer Entrüstung und Verboten geführt hat, wurde mehrfach als bester jugoslawischer Film aller Zeiten bezeichnet. Er kann auf eine lange, internationale und beeindruckende Karriere als Filmschaffender und -lehrender zurückblicken. Seine Filme – also nicht nur „The Constitution“ –  wurden auf zahlreichen Filmfestivals gezeigt und mit ebenso vielen Preisen ausgezeichnet. Und trotzdem ist er in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben. Nahezu keiner seiner elf Spielfilme wurde jemals Deutsch synchronisiert oder untertitelt und selbst die kleine, furchtbar banale Tatsache, dass es keinen deutschen Wikipedia-Artikel zu Grlić gibt, spricht in diesem Zusammenhang Bände.

Aufgrund dieser Unbekanntheit des Regisseurs scheint es mir sinnvoll wie notwendig, ein wenig auf die Einflüsse, die sich in seinem Stil niederschlagen und seine inhaltlichen wie thematischen Tendenzen einzugehen. Grlić wurde 1947 in Zagreb geboren und ist in Kroatien als Teil des kommunistischen Jugoslawiens aufgewachsen. Später hat er an der renommierten Akademie der musischen Künste in Prag studiert, die vor allem in den 60ern viele bedeutsame Regisseure hervorgebracht hat und damals dafür bekannt war, ihren Studenten einen „unverstellten Blick auf gesellschaftliche Realitäten zu ermöglichen“.

Der rote Faden seiner frühen Erfahrungen, die Prägung seiner filmischen Ausbildung lässt sich in seinem ganzen Schaffen wiederfinden. Ein Merkmal des Prager Nachwirkens zeigt sich beispielsweise in Grlićs unverkennbarem Talent dafür, Komik in der Tragik von Politik und Alltag zu finden und seine Filme mit ironischen Elementen – also quasi einem Augenzwinkern an dieser oder jener Stelle – anzureichern, wie Sie auch im Anschluss in der Tragikomödie „The Constitution“ sehen werden.

Des Weiteren sind seine Filme – fast – alle höchst politisch. Sie sind aber nicht in dem Sinne politisch, dass sie einlinige, offenkundige Proklamationen wären: Grlić sagt selbst über das Medium Film, dass dieses nicht didaktisch, nicht belehrend sein oder politische Propaganda enthalten sollte, weil Filme Geschichten über Menschen und nicht Ideen seien. Menschen bewegen sich aber zwangsläufig in bestimmten Kontexten, in bestimmten Umständen und politischen Realitäten und diese müssten dementsprechend ebenso filmisch abgebildet werden.

Politische Realität ist hier ein entscheidendes Schlagwort. Grlićs Fokus liegt auf dem Individuum, auf den Erfahrungen ganz gewöhnlicher und außergewöhnlicher Charaktere. Gleichzeitig ist er aber ein akribischer, ein scharfsinniger und kritischer Beobachter von Welt, Gesellschaft und politischer Stimmung, was sich auch in seinen Arbeiten im Bereich des Dokumentarfilms deutlich offenbart. In anderen Worten: Grlić hat keine Angst davor, hinzusehen und das für den Zuschauer abzubilden, was er sieht.

Mit diesem Bild des Regisseurs im Hinterkopf und der Wechselwirkung von abgebildeter politischer Realität und Individuum im Blick möchte ich mich nun dem Film des heutigen Abends zuwenden. „The Constitution“ arbeitet mit einem sehr kleinen Ensemble an Charakteren, die sich gerade durch ihre Verschiedenheit auszeichnen und dennoch in der gleichen Stadt, Zagreb, und – noch schlimmer – im gleichen Wohnhaus leben. Vjeko wird gespielt von dem 2018 verstorbenen, bekannten serbischen Film- und Theaterschauspieler Nebojša Glogovac. Er ist ein Professor, durchaus wohlhabend, homosexuell, ein Transvestit und – kroatischer Nationalist. Oder, um seinen rechten Ansichten eher gerecht zu werden: ein Faschist. Des Weiteren lebt er mit seinem alten und pflegebedürftigen Vater zusammen: Ein ehemaliges Mitglied der Ustascha, der faschistischen Bewegung, die während des zweiten Weltkriegs in Kroatien an die Macht gekommen ist und mit vielen antisemitischen und antiserbischen Gewalttaten in Verbindung gebracht wird.

Geradezu antithetisch steht Vjeko sein serbischer Nachbar gegenüber, gespielt von dem Kroaten Dejan Aćimović – allein in der Besetzung zeigen sich also schon die zuvor erwähnten ironischen Untertöne des Regisseurs. Ante ist Serbe, Polizist, weniger gebildet, nicht wohlhabend und lebt mit seiner Ehefrau Maja, einer Krankenschwester, zusammen. Eines Nachts wird Vjeko Opfer eines homophoben Übergriffs auf offener Straße und dieser Vorfall ist der Auslöser, der die vier Charaktere zusammenführt: Maja kümmert sich im Krankenhaus um ihn und erklärt sich dazu bereit, ihn während des Genesungsprozesses häuslich zu unterstützen und die Pflege seines Vaters zu übernehmen. Im Gegenzug soll Vjeko ihrem Mann Ante dabei helfen, für die Prüfung zu lernen, der er sich für die weitere Ausübung seines Berufes unterziehen muss. Das Kernthema dieser Prüfung ist der Inhalt und der konkrete Wortlaut der kroatischen Verfassung.

Die Konstellation dieser vier Charaktere, ihre räumliche und persönliche Zusammenführung bietet eine grandiose Grundlage für eine filmische Umsetzung – denn die Konflikte, die für einen narrativen Handlungsbogen von Nöten sind, sind ihnen bereits von Anfang an eingeschrieben. Die Feder hat hierbei neben Rajko Grlić der kroatische Journalist, Autor und Drehbuchschreiber Ante Tomić geführt. Tomić ist selbst bereits zweimal auf offener Straße beleidigt und angegriffen worden, beide Taten motiviert durch die politisch eher linke Ausrichtung seiner Texte.

Menschen bewegen sich in politischen Kontexten: wie sieht also die politische Realität, wie sieht das Kroatien, das uns der Regisseur und der Drehbuchschreiber, geprägt von ihren eigenen Erfahrungen, Weltsichten und Alltagsbeobachtungen, vor Augen führen wollen, aus? Kroatien ist der jüngste Mitgliedsstaat der EU, in den 1990er-Jahren wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens und eingebettet in blutigen Auseinandersetzungen die Landesunabhängigkeit ausgerufen und anerkannt. Unabhängigkeit. Der erste Abschnitt der Verfassung beginnt mit der Versicherung der „tausendjährigen nationalen Eigenständigkeit und dem Fortbestehen des kroatischen Volkes durch die Gesamtheit historischer Ereignisse unter verschiedenen Staatsformen“.

Der Gedanke einer Volkseinheit und der „tausendjährige Freiheitstraum“ scheinen die Dreh- und Angelpunkte zu sein, an welchen sich die Selbstkonstruktion einer kroatischen Landesidentität vollziehen. Sie stellen eine Lesart der Traumata des 20. Jahrhunderts dar, der großen Kriege, der zahlreichen Territorialverschiebungen, des Wechselspiels gegensätzlicher politischer Systeme – und der Abhängigkeit.

Eine Lesart, die Gefahren birgt, da in ihr eine offensichtliche Grenze gezogen wird: wir, das geeinte Volk – und die Anderen. Obwohl die gleiche Verfassung Freiheit, Gleichheit, nationale Gleichberechtigung usw. als höchste Werte der Verfassungsordnung betonen, kann diese Grenzziehung schnell zu einer Rechtfertigung für Ausgrenzung und Anfeindung fehlinterpretiert werden.

Genau an dieser Stelle setzt Grlićs Film an: zum einen zeigt „The Constitution“, dass die Wunden der politischen Vergangenheit noch immer in die Gesellschaft und das Gedankengut der Gegenwart bluten und das Alltagsleben formen. Zum anderen wird anhand von Vjekos Charakter, anhand seines inneren Ringens und seiner Frustration deutlich, dass eine extrem rechte Auslegung des Volksgedankens nicht nur furchtbare Auswirkungen auf die Ausgeschlossenen, sondern auch auf die in sie Eingeschlossenen hat. Diese Interpretation konstruiert nämlich ein Volk, das in seinen Eigenschaften gleich sein muss – und zwar weit über Fragen der nationalen Angehörigkeit hinaus.

Was passiert also mit einem Menschen, der den homogenen Ansprüchen seiner eigenen Ideologie nicht gerecht werden kann?



Quellen und weiterführende Literatur

Die Verfassung der Republik Kroatien. Entn. <https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=0ca1c9c9-c10d-766a-cfa5-2fc30970f72a&groupId=273233>, letzter Zugriff: 20.01.2020.

Pavlaković, Vjeran / Pauković, Davor [Hgg.]: Framing the Nation and Collective Identities. Political Rituals and Cultural Memory of the Twentieth-Century Traumas in Croatia. London [u.a.]: Routledge 2019.

Steindorff, Ludwig: Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg: Friedrich Pustet 2001.

Vidan, Aida / Crnković, Gordana P.: „A Conversation with Rajko Grlić: Films Are Stories About People, Not About Ideas”. In: Dies. [Hgg.]: In Contrast: Croatian Film Today. Zagreb: Berghahn Book [u.a.] 2012, S. 100 – 115.

filmimpuls. zu Capri-Revolution (2018)

Vortrag von Carla Pollak

CAPRI-REVOLUTION
Italien | Frankreich 2018 | Regie: Mario Martone | Spielfilm

Zur filmischen Einordnung: Capri-Revolution ist ein fiktionaler Film und kann als Drama oder auch Historiendrama kategorisiert werden. Das passt insofern, als dass die im Film konstruierte Insel Capri sich an der tatsächlichen italienischen Insel und ihrer kulturellen Geschichte orientiert. Die Handlung spielt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und thematisiert unter anderem die Reformbewegungen und Künstlerkolonien, die sich um 1900 vermehrt auf Capri niedergelassen haben. Dabei nimmt sich Martone für seinen Film vor allem das Leben des deutschen Malers Karl Wilhelm Diefenbach zum Vorbild, den es auch auf die Insel gezogen hat.

Der Film diskutiert durch das Zusammenspiel von Inhalt und Form Grenzen und zeigt gleichzeitig das Phänomen der Grenzüberschreitung – und zwar exemplarisch für und anhand der Insel Capri.

Wie wir sehen werden, konfrontiert uns der Film gleich am Anfang mit der wahrscheinlich offensichtlichsten Grenze. Denn die Handlung spielt auf einer Insel. Und Inseln grenzen sich geographisch ab. Sie sind von Meer umgeben, markieren also die Grenze von Land und Wasser, grenzen sich gleichzeitig aber auch von anderen Räumen wie zum Beispiel dem Festland ab. So ist es nicht verwunderlich, dass man, wenn es um Inseln geht, gerne im Sinne einer „klassischen“ Inselauffassung an einen abgeschlossenen oder begrenzten Raum denkt.

Neben den geographischen Grenzen sind es aber viel mehr die gesellschaftlichen und kulturellen – also nicht sichtbaren – Grenzen, die vom Film thematisiert werden. Entgegen der Annahme, dass alle Bewohner auf einer Insel, durch ihre Abgeschlossenheit die gleiche Mentalität und Kultur besitzen, zeigt der Film die Insel als einen heterogenen Raum, der auch innerhalb unterschiedliche Räume beherbergt, die sich ebenso voneinander abgrenzen können. Man könnte also sagen, dass sich auf der Insel weitere Inseln befinden. Und das, obwohl der geographische Ausgangspunkt der Gleiche ist.

So treffen im Film drei verschiedene gesellschaftliche Schichten aufeinander. Einmal gibt es die ländliche Bevölkerung, der auch unsere Protagonistin Lucia angehört. Ihre Perspektive bildet unseren Hauptbezugspunkt, wir begleiten sie auf ihrer Reise. Sie ist eine Hirtentochter und lebt in einfachen Verhältnissen mit ihren zwei Brüdern und ihren Eltern auf der Insel. Sie ist dort aufgewachsen. Im weiteren Verlauf der Handlung wird sie zu einer wichtigen Schlüsselfigur, gerade wenn es um die Überschreitung von Grenzen geht.

Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um eine Gemeinde von intellektuellen Künstlern, die aus Nordeuropa auf die Insel gekommen sind, um dort ein neues Gesellschaftssystem aufzubauen und ihrer Kunst nachgehen zu können. Aus der Sicht der ländlichen Bevölkerung stört diese Gruppe die bestehende Ordnung der Insel. Sie grenzt sich zunächst scheinbar doppelt ab: auf der einen Seite durch ihre geographische Herkunft als von außen kommende Eindringlinge, auf der anderen durch ihre Mentalität und kulturellen Praktiken, die der einheimischen Bevölkerung fremd sind. So ist es für uns erstmal nachvollziehbar, dass Lucias Brüder die Mitglieder dieser Gemeinde als „Teufel“ bezeichnen.

Ich sage deswegen „scheinbar“ und „erstmal“, weil es im Laufe des Films gerade durch Lucia immer offensichtlicher wird, dass diese beiden Gruppen gar nicht so gegensätzlich sind, wie es im ersten Moment scheint. Denn das, was sie am stärksten miteinander verbindet, ist ihr Bezug zur Natur und damit zur Insel Capri. Diesen Bezug zur Natur setzt der Film schließlich durch die Art der Darstellung sogar der dritten Gruppe, der bürgerlichen Bevölkerung, entgegen. Das ist besonders interessant, da es sich bei dieser Gruppe genauso wie bei der ländlichen Bevölkerung um die ursprünglichen Bewohner Capris handelt. Man sollte meinen, dass diese beiden Gruppen allein deshalb mehr miteinander gemeinsam haben als die ländliche Bevölkerung mit einer Gruppe von Außenstehenden.

Kategorien wie Natur und Technik oder Kunst beziehungsweise Spiritualität und Wissenschaft werden einander gegenübergestellt und mitdiskutiert. Hier werden also erneut Grenzen thematisiert. Und das immer sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene – und natürlich auch im Zusammenspiel der beiden.

Der Film zeigt uns, dass Grenzen sich verschieben und verändern können. Sie müssen keineswegs festgeschrieben sein. So werden wir gleich dabei zusehen können, wie Lucia zu einer Grenzgängerin, ja sogar zu einer Grenzüberschreiterin wird.

Der Titel des Films ist also Programm. Es dreht sich um Revolution und damit einhergehend um das Überschreiten von Grenzen.

Der Film spricht eine Thematik an, die nicht nur historisch interessant, sondern gerade in der heutigen Zeit auch wieder höchst aktuell ist. Denn in Zeiten der Flüchtlingskrise müssen Grenzen immer wieder neu hinterfragt, verschoben und auch geöffnet werden.

Filmkritik: KAÇIŞ (Die Flucht)

von Lisa Stengel

KAÇIŞ (Die Flucht)
Türkei | Deutschland 2016 | Regie: Kenan Kavut | Spielfilm

„Kaçiş“ ist Kenan Kavuts erster narrativer Langfilm; deutlich zeichnen sich die Einflüsse des Dokumentarfilms ab: Weitwinkelobjektiv Aufnahmen von Naturszenerien, in denen Menschen und sogar Menschengruppen klein und verloren wirken, schutzlos ihrer Umwelt ausgeliefert, stehen Zeugnis für Kavuts frühes Schaffen. Mit so einer Szene beginnt der Film, der tiefe Menschlichkeit – gleichzeitig Verbundenheit und Differenz – zeigt.

Cabir ist syrischer Flüchtling, der die türkisch-griechische Grenze am Mariza überqueren möchte. Unverhofft taucht das türkische Militär auf, seine Gruppe zerstreut sich, viele werden gefasst, doch Cabir kann fliehen. Als er auf Sadik trifft, der nachts am Fluss Frösche fängt, und beim Essen dessen Brotzeit überrascht wird, bleibt Cabir in Notwehr keine andere Wahl, als ihn zu erschlagen. Er flieht und findet sich auf dem Hof von Aliye wieder, die ihn zögerlich aufnimmt. Obgleich – oder vielleicht gerade weil – sie keine Sprache teilen und dadurch keine Möglichkeit zur Kommunikation haben, entsteht zwischen den beiden eine Verbindung und ein Vertrauen, dass sie ihre größten Geheimnisse teilen lässt; und nur der Zuschauer alleine weiß: in ihrem Schmerz und Trauma, aus so ungleichen Gründen diese entstanden, finden die beiden wahre Nähe.

„Kaçiş“ begeistert nicht nur mit atemberaubenden, nahezu erhabenen Aufnahmen der Natur und Naturschauspielen – hier fällt vor allem die Rahmung der Handlung durch Gewitter auf – die von seiner Erfahrung als Dokumentarfilmer gezeichnet sind, sondern auch mit ebenso faszinierenden und detailreichen Bildern des Bauernhofes und der Wohnräume sowie perfekt in Szene gesetzten Portrait- und Nahaufnahmen.

„Kaçiş“ ist ein rundes Kinoerlebnis bei dem alles passt: vom emotionalen wie politischen Plot über das fantastische Schauspiel bis hin zur technischen Ausführung steht dieses türkische Werk Hollywood in nichts nach.

Filmkritik: PAPICHA

von Natascha Herr

Papicha
Frankreich | Algerien | Belgien | Katar 2019 | Regie: Mounia Meddour | Spielfilm

Die algerisch-arabische Bezeichnung Papicha lässt sich im Deutschen nicht einfach mit einem Wort wiedergeben. Sie steht für einen Lebensstil, genauer gesagt für ein Frauenbild – für junge, moderne Mädchen, die an ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Freiheit glauben und den Mut haben, diese in einer oftmals feindlich gesinnten Welt auszuleben.

Mounia Meddours erster Langzeitfilm stellt genau so ein Mädchen in das Zentrum der Handlung: Nedjma ist 18, studiert und lebt mit ihren Kommilitoninnen in einem Studentinnen-Wohnheim. Sie träumt von einer Karriere als Modedesignerin und schleicht sich nachts mit ihrer Freundin vom Universitätscampus, um ihre selbstgenähten Kleider in Nachtclubs zu verkaufen.

Die zum Anfang des Films inszenierte, mitreißende Lebensfreude bleibt jedoch nicht lange ungetrübt – „Papicha“ spielt im Algerien der 90er-Jahre, ein Bürgerkrieg erschüttert das Land und islamistische Gruppen versuchen mit allen Mitteln, die Macht an sich zu reißen. Gerade unabhängige, nicht einzuschüchternde und „freizügige“ Frauen sind den Extremisten ein Dorn im Auge: Poster, die die Verhüllung von Frauen zur „Sittenwahrung“ fordern, werden an Wände gekleistert, Wohn- und Lehrräume der Universität immer wieder gestürmt, um der „gelebten Unmoral“ ein Ende zu setzen. Nedjma bleibt ihrer Lebensart zunächst treu, bis eine Katastrophe ihr Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert: eine Fanatikerin tötet ihre Schwester vor der eigenen Haustür. Der Szene, die zum Wendepunkt der Geschichte wird, folgt eine lange Abblende, in der der Zuschauer – ähnlich wie Nedjma – mit dem Schrecken der unvorhersehbaren, gnadenlosen Gewalt allein gelassen wird.

Nedjmas Kämpfernatur bleibt von dem Trauma zwar geschwärzt, aber nicht gebrochen: sie beschließt, trotz aller Risiken und Verbote eine Modenschau mit ihren Entwürfen auf dem Universitätsgelände auf die Beine zu stellen. Bis zum Tag der angesetzten Präsentation folgt Rückschlag auf Rückschlag, Entkräftung auf Entmutigung. Die gezeigten Szenen der fortschreitenden Entrechtung der Frauen, der um sich greifenden Akzeptanz von frauenfeindlichem Gedankengut, von Nedjmas demoralisierendem Kampf und die schiere Aussichtslosigkeit der ganzen Situation wirken nicht nur auf die Heldinnen zermürbend und unendlich frustrierend. Gleichzeitig lassen diese Bilder erahnen, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist und die wahre Eskalation wie eine unheilvolle Gewitterwolke über den Köpfen aller schwebt. Der schockierende Wolkenbruch folgt dann auch auf die erfolgreiche und zunächst befreiend wirkende Modenschau: bewaffnete Islamisten fallen auf den Campus ein und schießen um sich. Nedjma kann dem hektisch wie qualvoll inszeniertem Blutbad entkommen, muss aber einsehen, dass ihre Lage als freidenkende Frau in Algerien augenscheinlich hoffnungslos geworden ist. Trotz allem lässt es sich die Regisseurin nicht nehmen, auf einer hoffnungsvollen Note zu enden: nämlich mit dem Blick auf eine bessere, gerechtere Zukunft.

„Papicha“ ist durch seine gnadenlos voranschreitende Geschichte und den Bezug auf reale Ereignisse durchaus als schmerzhafte Erfahrung zu betrachten; dennoch gelingt es Mounia Meddour, den bitteren Nachgeschmack durch die Darstellung unbegreiflich starker Frauen, die Kraft und unerschöpflichen Lebenswillen aus sich selbst und ihrer gemeinsamen Freundschaft ziehen, abzumildern.

Die Perspektive der medialen Berichterstattung: Zwischen Simulation und Realität

von Felix Herz

Der 1929 in Reims geborene Philosoph, Medientheoretiker und Soziologe Jean Baudrillard eckte mit seinem Verständnis der Moderne nicht selten an. In den 1970er Jahren entwickelte er die Simulationstheorie, in der er „konstatiert, dass nichts Reales mehr außerhalb medialer Zeichensysteme existiere“ (Lexikon der Filmbegriffe: Simulationstheorie)[1]. Zeichen werden also aufgrund fehlender Referenzen zu Simulacra, zu Schattengebilden.

Baudrillards Feind ist die moderne Konsumgesellschaft, die taub und stumm wird durch den ständigen Informationsfluss aus Zeitungen, Zeitschriften, aus iPhones und Internetseiten. Die Masse Mensch werde Baudrillard zufolge zum Schweigen gebracht, so stellt der SWR2 im Beitrag „Jean Baudrillard und die Kultur der Simulation“ (SWR2: Jean Baudrillard und die Kultur der Simulation)[2] fest.

Auch von der Politik zeichnet Baudrillard ein schwarzes Bild. Klassische Politiker seien durch PR-Experten und Medienprofis ersetzt worden und stehen einer Wirtschaftselite gegenüber, die das eigentliche Sagen hat. Die Politik sei ebenfalls eine Simulation geworden, so Baudrillard.

Baudrillard starb 2007 in Paris – er wurde 77 Jahre alt. 2007 – das war vor der Finanzkrise, vor der Flüchtlingskrise und vor Fridays for Future. Was würde Baudrillard jetzt, im Jahr 2020 und mit Blick auf ein turbulentes Jahrzehnt, sagen?

Vor allem hinsichtlich der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise standen die deutschen Leitmedien 2017 in der Kritik. Die Otto Brenner Stiftung zog ein ernüchterndes Fazit. Zwischen Februar 2015, als die Flüchtlingsthematik begann, die Griechenland-Rettung als nationales Megathema abzulösen, bis zur Kölner Silvesternacht 2015, so schreibt die Frankfurter Allgemeine, seien Journalisten ihrer Rolle als neutrale Beobachter nicht gerecht geworden (Frankfurter Allgemeine: Wie Medien über die Flüchtlingskrise berichteten)[3]. Zu sehr habe man sich dem Diskurs und den Losungen der Politik unterworfen, anstatt die Sorgen und Ängste der Bevölkerung zu beleuchten. Das habe eine Frontbildung in der Gesellschaft verstärkt, sagt Michael Haller, Studienleiter und wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung. Erst gegen Ende 2015 habe sich der mediale Diskurs erweitert – und man habe, so Haller weiter, teilweise den Eindruck bekommen, manche Journalisten versuchten nun, übereifrig nachzuholen, was zuvor versäumt wurde.[4]

Wo stehen wir nun im Jahr 2020? Die Stimmung ist aufgeheizter, die Fronten weiterhin verhärtet. Zwischen Trump, Johnson, Brexit, Irankonflikt, Klimaschutz und -Hysterie, ist die Flüchtlingskrise keine Krise mehr, sondern vielmehr eine Thematik.

Wir stehen vor Bildern, die Geschichten erzählen, vor Zeilen, die Einblicke bieten, und vor Ausschnitten, die eine Vergangenheit zeigen. Wir stehen vor Perspektiven – was würde Baudrillard sagen?


Titelbild- und Coverquellen, sowie Danksagung:

Folgende Zeitungs- und Magazinausgaben wurden genutzt (Die Copyright-Angaben befinden sich ebenfalls am unteren Rand der Ausstellungsbilder):

  1. Süddeutsche Zeitung:
  2. Titelstory: „Gestrandet beim kleinen Bruder“, 11.07.2011
  3. Titelstory: „Türkei erwartet neue Flüchtlingswelle“, 22.09.2014
  4. Titelstory: „Verlorene Generation“, 13.03.2015

© Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content (www.sz-content.de).

Ich bedanke mich, die genannten Ausgaben kostenfrei nutzen zu dürfen.


  • Spiegel:
  • DER SPIEGEL 10/2016

Ich bedanke mich, die genannten Ausgaben kostenfrei nutzen zu dürfen.


  • Die WELT:
  • Die WELT, 01.09.2015
  • Die WELT, 28.10.2015
  • Die WELT AM SONNTAG, 03.01.2016

Ich bedanke mich, die genannten Ausgaben nutzen zu dürfen.


[1] Simulation / Simulationstheorie : Baudrillard ; Lexikon der Filmbegriffe, https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5767

[2] Jean Baudrillard und die Kultur der Simulation ; SWR2 Wissen, https://www.swr.de/swr2/programm/download-swr-9234.pdf

[3] Wie Medien über die Flüchtlingskrise berichteten: Frankfurter Allgemeine, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/fluechtlingskrise-so-berichteten-die-medien-15115172.html

[4] Wie Medien über die Flüchtlingskrise berichteten: Frankfurter Allgemeine, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/fluechtlingskrise-so-berichteten-die-medien-15115172-p2.html

Fotoausstellung: Perspektiven einer Reise

von Monti Luger, Marija Malinska und Barbara Wutz

Die Fotoausstellung Perspektiven einer Reise befasst sich mit drei Perspektiven: mit der eines Flüchtlings, mit der einer Urlauberin und mit der Darstellung der Medien.


Die erste Perspektive stellt die einer Urlauberin dar. Die meisten von Ihnen werden die Mittelmeerküste mit ihren imposanten Landschaften, dem milden Klima und leckerem Essen, zur Erholung besucht haben. Dadurch wird diese Sichtweise eine vertraute sein. Wichtig für unsere Darstellung ist allerdings auch die Art des Urlaubes. Segeln wird assoziiert mit Freiheit und Entdeckungen, aber auch mit einem gewissen finanziellen Status. Dieser Aspekt wird in den begleitenden Interviews vermehrt beleuchtet, denn für die Protagonisten – einer Gruppe Studenten und Berufseinsteigern – ist die finanzielle Seite der Reise durchaus prominent.

Auch ist die Reise mit gewissen weiteren Hürden verbunden. Die Unannehmlichkeiten einer Autofahrt oder die Herausforderung eine Gruppe Menschen auf engstem Raum für längere Zeit zufrieden zu stellen mögen verglichen mit globalen Problemen banal erscheinen. Doch sind sie für die beteiligten Personen in der Situation durchaus real und wichtig. Somit war es unser Ziel, auch diesen Aspekt zu beleuchten und eine vielschichtige Repräsentation zu kreieren. Doch auch eine weitere Perspektive lässt sich zwischen den Zeilen erkennen: die der Einheimischen. Welche Auswirkungen haben die Touristenströme auf ihr Leben und ihre Heimat?  Die Fotografien stellen auf den ersten Blick schöne Urlaubserlebnisse dar. Doch sollen sie mit ihrer Komposition eine Spannung erzeugen und einladen, inne zu halten und hinter die Fassade zu blicken. 

Nicht zuletzt entsteht die Spannung auch durch die direkte Gegenüberstellung zur zweiten Perspektive – der eines Geflüchteten. Ein Boot auf dem Mittelmeer ruft in Angesicht der Ereignisse der letzten Jahre unweigerlich Assoziationen mit der Flüchtlingskrise hervor. 

Unsere Intention ist es aber keineswegs, mahnend den Zeigefinger zu erheben. Vielmehr geht es darum, den Blick auf die einzelnen Personen zu wenden, denn jede der Perspektiven hat ihre Legitimität.


Wir kontrastieren die Urlauber-Perspektive mit der von Hafez, der über das Mittelmeer geflüchtet ist. Die Meisten werden die Flüchtlingsdebatte über die Massenmedien mitverfolgt haben und sich auf Basis verschiedener Aussagen ein Bild über die Situation gemacht haben. Aber wie viele von uns hatten schon einmal die Möglichkeit, eine solche Reise persönlich zu hören? 

In der Ausstellung versuchen wir, auch den Weg aus der Sicht des Individuums zu beleuchten, die in der Masse von Berichterstattung und Menschen untergeht. 

Aus ersten Hand erzählt uns Hafez von den Umständen seiner Flucht aus der Heimat, der Reise nach Europa und wie er in Deutschland angekommen ist. Die Fotos von Hafez sind in München entstanden und sollen die jeweiligen Stationen seiner Reise wiederspiegeln. 

Zwischen den Herausforderungen, Gefahren und Ungewissheit auf dieser Reise, vergisst man leicht das, was der Schweizer Psychologe Carl Jung Individuation, oder Selbstverwirklichung, genannt hat. Hafez hat die Verantwortung für sein Leben übernommen und den Mut aufgebracht, einen lebensbedrohlichen Weg auf sich zu nehmen, um sein Leben zu retten. Lassen Sie den Kontrast der Geschichten auf sich wirken und beobachten Sie, ob sich Ihre Sichtweise verändert.

Filmkritik: CLIRIMI (Befreiung) / THE RETURN (Die Rückkehr)

von Lisa Stengel

CLIRIMI (Befreiung)
Kosovo | Albanien 2015 | Regie: Burim Haliti | Kurzfilm

„Clirimi“ spielt während des Kosovokrieges – ein Konflikt, der nicht nur im internationalen, sondern auch im nationalen Gedächtnis in den Hintergrund rückt. Die Protagonisten sind ein ungleiches Paar: ein Lehrer und ein Schüler, die zu einer Nachprüfung das Schulgebäude aufsuchen und dort gezwungenermaßen mehrere Monate des aktiven Gefechts ausharren. Der Konflikt zehrt an den Kräften beider, Hunger und Angst machen sie gereizt und doch zeigen sie auch Humor. Und als das Land befreit wird, die beiden endlich das Gebäude verlassen können – stehen sie albanischen Truppen gegenüber.
Halitis Kurzfilm zeigt Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit. Er zeugt vom Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, auch wenn die Hoffnung auf Frieden buchstäblich stirbt. Doch das Ende bleibt offen – wie so viele Menschen, die tatsächlich bis heute nach Ende des Konflikts verschwunden sind, wissen wir als Zuschauer nicht, was aus den beiden ungleichen Helden wurde.


THE RETURN (Die Rückkehr)
Kosovo | Mazedonien 2017 | Regie: Kastriot Abdyli | Spielfilm

Diese erste albanisch-mazedonische Koproduktion bringt direkt ein politisch brisantes Thema auf die Leinwand: nach sieben Jahren kehrt Iliri nach Mazedonien zurück – mit einer Frau, seiner Verlobten Sabine, an seiner Seite. Jahre zuvor war er, in Hoffnung auf eine bessere Zukunft, nach Frankreich ausgewandert, ohne die Sprache zu kennen oder ein Handwerk zu beherrschen. Doch bei der Rückkehr in seine ländlich geprägte Heimat treffen buchstäblich Welten aufeinander: Iliris Vater will Sabine einfach nicht als die Zukünftige seines Sohnes akzeptieren. Wie Sabine kann der Zuschauer nur Vermutungen aufstellen: liegt es daran, dass sie Französin ist? Ist es die Sprachbarriere? Sind es vielleicht doch religiöse Gründe? Doch vor der malerischen mazedonischen Landschaft entfaltet sich in Wahrheit ein ganz anderer Konflikt: vor sieben Jahren hatte Iliri einer Frau versprochen, für sie zurück zu kommen. Und so ein Versprechen bricht man nicht leichtsinnig.

„The Return“ spielt um 2000, spricht aber ein bis heute relevantes wie besorgniserregendes Thema an: Landflucht betrifft viele junge Menschen, vor allem Männer, die sich im Westen eine bessere Zukunft erhoffen. Und viele Frauen werden zurückgelassen – im besten Fall mit einem Versprechen, im schlimmsten mit mehreren Kindern, die sie alleine großziehen müssen.

Abdyli schafft einen bildgewaltigen Film, der auf narrativer Ebene nicht weniger überzeugt. Und zum Ende müssen wir uns fragen: ist Iliri wirklich nur der Liebe zum Opfer gefallen oder hatte er andere Motive?


Mittelmeer und Plastikflut

Eine Kunstinstallation von Vivi Kara, Lilian Karr und Coco Klausen

am 25.-26.01.2019 von 18-22 Uhr im Pixel | Eintritt frei!

Das Mittelmeer als Sehnsuchtsort: Sonnige Urlaubstage am Strand, Tauchgänge in Unterwasserwelten, lange Abende in lebendigen Küstenorten und das Erleben verschiedener Kulturen locken Menschen seit jeher in den mediterranen Raum. Doch das Mittelmeer ist ein bedrohtes Gewässer: Plastikmüll und Giftstoffe machen es zur Todeszone für das Unterwasserleben. Leergefischte Regionen und (Mikro-)Plastik als Klimakiller: Die Traumkulisse ist gleichzeitig Massengrab – aus der Naturschönheit wird eine Unterwasserwüste. Anhand von recycelten Materialien unternimmt die Kunstinstallation den Versuch, zwischen diesen Widersprüchen und Gegensätzen zu vermitteln. Das Mittelmeer sollte kein Ort passiver Betrachtung sein.

Meerwert

Ein Interview mit Vivi Kara, Lilian Karr und Coco Klausen von Ruth Konrad und Paulina Kutschka

Schon als sich die Planung der Zusammenarbeit zwischen uns Studierenden der LMU und der Filmstadt noch in den Kinderschuhen befand, habt ihr euch dazu entschieden eigenhändig ein Kunstprojekt auf die Beine zu stellen. Was fasziniert euch an der medialen Form der Kunstinstallation?

Da unser Studiengang sehr theoretisch ist, hat es uns gereizt, die Thematik Mittelmeer mal von der anderen Seite zu betrachten. Da wir sonst die künstlerischen Darstellungen nur analysieren, haben wir uns überlegt, ein Experiment zu wagen und unser theoretisches Wissen und unsere Grundlagen umzupolen. Dieses Verständnis und dem anderen Blickwinkel wollten wir uns an den Prozess der künstlerischen Entwicklung heranwagen. Für uns war es besonders spannend, dass uns das Studium nun die Möglichkeit bietet, auf vielfältige Weise mit der Thematik auseinanderzusetzen und eine andere Formsprache entwickeln zu können. Also, unser theoretisches Wissen ins künstlerische Projekt umzupolen und dabei beides zu kombinieren. Denn man darf nicht vergessen, dass unser Studiengang auch die Medienkultur beinhaltet und es so viele unterschiedliche Ausdrucksweisen gibt.

Was könnt ihr uns schon über die Kunstinstallation verraten?

Zu viel wollen wir noch nicht verraten. Was wir schon sagen können ist, dass wir die enorme Verschmutzung des Mittelmeeres thematisieren. Wir versuchen mit unserer Installation das Bewusstsein für die vorherrschende Situation in den Weltmeeren, vor allem im Mittelmeer, zu schaffen. Wir haben uns bemüht, dass alle Materialien, die wir nutzen, ausschließlich recycelte sind oder recycelte werden. Wir wollen in keinem Fall durch die Installation neuen Plastikmüll produzieren. Das war vor allem auch mit Hilfe des Treibguts, quasi einem „Second-Hand-Künstlerbedarf“ im Kreativquartier möglich, in dem wir den Großteil der Materialen für die Ausstellungen geholt haben. Außerdem lässt sich verraten, dass unser Projekt die verschiedenen Sinne ansprechen soll. Sowohl visuell als auch auditiv. Aber auch die olfaktorischen und gustatorischen Reize kommen nicht zu kurz – denn im Pixel wird es auch eine Bar geben.

Im Studium der Film- und Medienkultur Forschung lernen wir viel über die Techniken mit denen Kunst interpretiert werden kann, doch selten haben wir Berührung mit dem tatsächlichen Prozess der Entwicklung. Wie war das für euch? Wie seid ihr an die Sache rangegangen?

Natürlich lag es nicht so fern, eines der Themen, die einem sofort in den Kopf schießen, wenn man an das Mittelmeer denkt, aufzugreifen. Das Thema Meeresverschmutzung sowie die Geflüchtetenthematik ist zurzeit eine der ersten Assoziationen mit dem Mittelmeer. Wir haben uns dafür entschieden, dass man mit einer Kunstinstallation recht gut auf die Meeresverschmutzung aufmerksam machen kann und durch unser theoretisches Wissen hinsichtlich der Kunstvermittlung und ihrer Wirkung die Möglichkeit nutzen wollen, dies im Kontext der Tagung umzusetzen. Wir sind ziemlich spontan und inspirativ an das Projekt rangegangen. Dadurch dass wir drei bei der Idee sehr schnell und gut zusammengearbeitet haben und zum Glück visuell recht ähnliche Vorstellungen und Wünsche hatten, war schnell klar, in welche Richtung wir gehen wollen und das Projekt hat sich dann relativ gut umsetzen lassen. Besonders konkret ist es dann bei unserem Besuch im Treibgut geworden, da wir vor allem von der Idee des Recycelns von Künstlermaterialien begeistert waren. Denn die Kunst, die oft auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen soll und an die Menschen und ihren Umgang mit diesen appelliert, hat einen enormen Ressourcenverbrauch zu verzeichnen. Durch die recht einzigartige Möglichkeit, diese Materialien zu recyceln, lässt sich die Idee einer Installation zur Vermüllung der Meere quasi ohne schlechtes Gewissen umsetzen.

Aufgabe war auch eure kreative Arbeit mit einem wissenschaftlichen Hintergrund zu verknüpfen. Wie gut sind Kunst und Wissenschaft aus dieser für euch neuen Perspektive der Kunstschaffenden vereinbar?

Wir würden sagen, das kommt sehr darauf an, was man will. Der wissenschaftliche Hintergrund und die Analyseweisen spielen für einen wirklichen Kunstschaffenden keine große Rolle. Für uns war das Projekt besonders spannend, weil wir beide Blickwinkel haben – den theoretischen und den künstlerischen. Da wir aus beiden Perspektiven arbeiten, hatten wir während der praktischen Herangehensweise immer auch die theoretischen Aspekte im Hinterkopf. Da wir ja begleitend auch unsere wissenschaftlichen Arbeiten über die Kunstrezeption und die Legitimation und Wirkungsweisen von Kunst schreiben, war es für uns interessant, ein wahrscheinlich etwas anderes Kunstprojekt zu schaffen.